Der stolze Orinoco
obgleich Beide einander noch niemals gesehen hatten. Es verknüpfte sie das Band der Natur, ein so festes Band, daß nichts es sprengen konnte.
Das junge Mädchen blieb mit dem Sergeanten Martial also in Chantenay. Letzterer hörte, daß sie wenige Tage nach ihrer Geburt in Martinique auf den Namen Jeanne getauft worden war, und er setzte diesen Namen wieder an die Stelle dessen, den sie bei der Familie Eridia geführt hatte. Jeanne lebte bei ihm, stets bemüht, die leisesten Anzeichen zu beachten, die es gestattet hätten, den Spuren des Oberst von Kermor nachzugehen.
An wen sollte sie sich aber wenden, um über den Abwesenden die geringste Nachricht zu erhalten? Der Sergeant Martial hatte ja schon alle Mittel erschöpft, in gleichem Sinne Erkundigungen einzuziehen. Und nun war der Oberst von Kermor obendrein ausgewandert, weil er in der Welt ganz allein dazustehen glaubte. Ach, wenn er hätte wissen können, daß seine aus dem Schiffbruche gerettete Tochter im Vaterhause auf ihn wartete!
Mehrere Jahre vergingen. Kein Lichtstrahl hatte das bisherige Dunkel unterbrochen. Ohne Zweifel hätte den Oberst von Kermor auch ein unergründliches Geheimniß noch weiter verhüllt, wenn es nicht unter folgenden Umständen zu einer unerwarteten Offenbarung gekommen wäre.
Der Leser erinnert sich des Briefes, der, vom Oberst unterzeichnet, 1879 in Nantes eingetroffen war. Dieser Brief kam aus San-Fernando de Atabapo in Venezuela, Südamerika. An den Rechtsanwalt, einen Freund der Familie von Kermor gerichtet, bezog er sich nur auf eine rein persönliche Angelegenheit, die dieser regeln sollte. Gleichzeitig empfahl ihm der Absender darin ernstlich, über das Vorhandensein des Briefes unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren. Der Anwalt schied bereits aus dem Leben, als Jeanne von Kermor sich noch in Martinique befand und als noch niemand wußte, daß sie die Tochter des Oberst war. Erst sieben Jahre darauf wurde der Brief, damals schon dreizehn Jahre alt, unter den Papieren des Verstorbenen gefunden. Da beeilten sich seine Erben, die die Geschichte Jeanne von Kermor’s kannten und ebenso wußten, daß sie sich bei dem Sergeanten Martial aufhielt, wie daß sie Alles versucht hatte, auf ihren Vater bezügliche Schriftstücke zu entdecken – ihr von dem Briefe Kenntniß zu geben.
Jeanne von Kermor war inzwischen mündig geworden. Seitdem sie, man könnte sagen, »unter den Mutterflügeln« des alten Waffengefährten ihres Vaters gelebt, hatte sich ihre bei der Familie Eridia erhaltene Ausbildung unter dem sachlichen und ernsten Unterricht, den die neuere Pädagogik bietet, noch wesentlich vervollkommnet.
Da kann man sich wohl vorstellen, von welch unwiderstehlichem Drange sie erfaßt wurde, als jenes Schriftstück in ihre Hände kam – erbrachte es doch den Beweis. daß der Oberst von Kermor 1879 in San-Fernando geweilt hatte. Und wußte man deshalb auch noch nicht, was später aus ihm geworden wäre, so war es doch eine Andeutung, der so ersehnte Hinweis, auf Grund dessen die ersten Schritte zu seiner Aufsuchung unternommen werden konnten Jetzt gingen wiederholt Briefe an den Gouverneur von San-Fernando ab… die Antworten lauteten immer gleichmäßig, daß niemand einen Oberst von Kermor kenne oder sich erinnern könne, daß ein solcher nach dem Orte gekommen sei. Und doch war an der Echtheit des Briefes gar nicht zu deuteln.
Unter diesen Umständen erschien es natürlich am rathsamsten, selbst nach San-Fernando zu gehen, und Jeanne faßte ohne Bedenken den Entschluß, nach jener Gegend am obern Orinoco zu reisen.
Fräulein von Kermor war mit der Familie Eridia in ununterbrochenem Briefwechsel geblieben. So theilte sie den Adoptiveltern auch ihre Absicht mit, sich dahin zu begeben, wo es ihr vielleicht möglich wäre, die ersten Spuren von ihrem Vater wieder zu entdecken, und jene konnten sie, trotz der Schwierigkeiten einer solchen Reise, in ihrem Entschlusse nur bestärken.
Doch wenn Jeanne von Kermor diesen offenbar weitaussehenden Plan entworfen hatte, war damit noch gar nicht gesagt, daß auch der Sergeant Martial ihm zustimmen müßte. Er verwarf ihn vielleicht von Anfang an, widersetzte sich der Ausführung dessen, was Jeanne als Pflicht betrachtete, und erhob Widerspruch schon aus Besorgniß vor den Anstrengungen und Gefahren, denen sie sich in den weltfernen Gebieten Venezuelas aussetzte… Viele Tausend Kilometer zurückzulegen!… Ein junges Mädchen, das sich in ein so abenteuerliches Wagniß stürzte…
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