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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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darunter doch gelitten, da er sehr sensibel war.«
    Ich war jetzt hellwach. Er sprach tatsächlich plötzlich von mir in der dritten Person, obwohl ich doch bei ihm saß, mit einem leeren Grogglas in der Hand. Ich erhob mich, bedankte mich. »Wofür?«, fragte er.
    »Dafür, dass du lebst und für all das, was du in deinem Gedächtnis bewahrt hast.«
    Er sah mich an mit einem Blick, in dem Verzweiflung und Trostlosigkeit lagen. »Es ist viel zu wenig übrig. Ich habe viel zu viel vergessen. Auf keinen Fall gehe ich auf die Insel zurück. Sie hat sich viel zu sehr verändert. Ich habe gelesen, dass sie jetzt an der Mittelbrücke eine Bank installiert haben für alte Fahrensleute, die sich dort unterhalten sollen, damit die Touristen etwas von der Vergangenheit erfahren.«
    »Du hast Recht«, sagte ich. »Auch ich könnte dort nicht leben. Obwohl ich dort wahrscheinlich meine schönsten Jahre verbracht habe, jedenfalls was das Wetter und die Landschaft anbelangt. Ich habe oft von der Insel geträumt. Auch heute noch träume ich von ihr. Ich lebe jetzt an einem Ort, der der Insel ähnlicher ist als sie sich heute selbst.«
    Ich verabschiedete mich, schloss die Tür behutsam und ging hinunter. Als ich am Büro vorbeikam, rief mich die Totenhündin hinein. »Ihr Vater braucht seine Lakritzbonbons«, sagte sie. »Würden Sie so nett sein, welche zu besorgen? Er hat seine Vorräte alle aufgebraucht.«
    Zurück im Haus meines Vaters gab ich mich den Bildern hin, die sein Monolog in mir ausgelöst hatte und die immer noch vorbeifluteten vor meinem inneren Auge. Ich schmeckte die Muschelwurst, die so sandig war, dass sie zwischen den Zähnen knirschte. Ich hörte die hysterische Stimme meiner Mutter, die oben auf dem Absatz des Treppenhauses stand, als ich aus der Schule kam. Sie hatte mich von der Veranda aus gesehen. Sie schrie: »Dein Vater ist untergegangen.«
    Der rote Treppenläufer verwandelte sich in einen Blutsturz. Meine Beine waren aus Blei, während ich mich am Treppengeländer hochzog. Sie hatte die Arme ausgebreitet und schloss mich in sie. Jetzt erst sagte sie: »Er lebt, dein Vater, mein geliebter Mann lebt. Aber es gibt Tote.«
    Als mein Vater am Abend gekommen war, hatte er kein Wort über das Geschehen gesagt. Er hatte sich in der Küche ausgezogen, und meine Mutter hatte die Schürfwunden versorgt, die er sich bei dem Aufbruch der eingeklemmten Tür des Ruderhauses geholt hatte. Ich hatte also wieder einmal seinen Tod erlebt und seine plötzliche Wiederauferstehung.
 

 

Kapitel 18
    ch rief den Hausarzt meines Vaters an, denn ich wollte Gewissheit haben über seinen Zustand. Eine Stunde später war er da. Ein großer, dunkler Mann, zu dem man sofort Vertrauen fasste. Einer jener typischen Landärzte, die noch Hausbesuche machen und so etwas wie ein wandelndes Placebo sind. »Der Prostatakrebs Ihres Vaters hat gestreut. Es ist inzwischen Knochenkrebs daraus geworden«, sagte er. »Aber in seinem Alter laufen die Prozesse im Körper sehr langsam. Er hat ein starkes Herz. Es ist durchaus möglich, dass er eines natürlichen Todes stirbt, ehe der Krebs ein letales Stadium erreicht. Machen Sie sich also keine Sorgen. Es ist alles so weit in Ordnung. Wie steht es mit Ihnen?«
    Er sah mich prüfend an. Dabei kam er mir vor wie ein Heuerbaas, der herausbekommen wollte, ob er mich zur Anmusterung auf einem Totenschiff empfehlen sollte. Er öffnete seinen schwarzen Lederkoffer und entnahm ihm ein Blutdruckmessgerät. Während ich meinen Unterarm auf die Resopalplatte des Küchentisches aufstützte und er das Gerät anlegte, hörte ich draußen vom Flur her überlaut das Ticken der Standuhr. »Zu hoch«, sagte er. »Ich würde vorschlagen, Sie kommen morgen in meine Praxis zu einer Grunduntersuchung. Bringen Sie bitte eine Stuhlprobe mit.«
    Er überreichte mir ein kleines, verschließbares Glasröhrchen. Dann verschwand er nach einem festen Händedruck.
    Ich verbrachte den Rest des Tages damit, auf dem Dachboden herumzustöbern, und ich wurde tatsächlich fündig: mehrere Kisten, die meine alten Bastelsachen enthielten. Die Kosmosbaukästen €›Optik€‹, €›Chemie€‹ und €›Elektrotechnik€‹, das selbstgebaute Mikroskop, das Teleskop, der Funkeninduktor, das alte Radio. Ich breitete meine Schätze auf dem Küchentisch aus. Dann holte ich eine Wäscheklammer aus dem Keller, eine Rolle Blumendraht und zwei Reißzwecken und bastelte damit eine primitive Morsetaste. Ich schloss den Funkeninduktor an den

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