Der Streik
aufgerissen war, sein kantiger Mund schien von der Bitterkeit eines ganzen Lebens gezeichnet.
„Geist?“, sagte der alte Mann. „Es gibt in der Industrie und beim Sex keinen Geist. Und doch dreht sich für den Menschen alles darum. Materie, das ist alles, was der Mensch kennt und was ihn kümmert. Das bezeugen unsere großen Industriebetriebe – die einzige Leistung unserer angeblichen Zivilisation –, gebaut von ordinären Materialisten mit den Zielen, Interessen und Moralvorstellungen von Schweinen. Um einen Zehn-Tonnen-Truck vom Fließband zu lassen, braucht es keine Moral.“
„Was ist Moral?“, fragte sie.
„Das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, die Fähigkeit, die Wahrheit zu sehen, der Mut, danach zu handeln, die Hingabe an das Gute und die Integrität, es um jeden Preis zu verteidigen. Aber wo kann man das finden?“
Der junge Mann gab einen Ton von sich, der teils ein Lachen, teils Hohn war: „Wer ist John Galt?“
Sie trank ihren Kaffee und war nur mit dem Genuss beschäftigt zu fühlen, wie das heiße Getränk die Arterien in ihrem Körper zu beleben schien.
„Das kann ich Ihnen sagen“, sagte ein kleiner, verknitterter Landstreicher, der sich eine Mütze bis weit über die Augen gezogen hatte. „Ich weiß es.“
Niemand hörte ihm zu oder schenkte ihm Beachtung. Der junge Mann beobachtete Dagny mit einer Art angespannter, zielloser Intensität.
„Sie haben keine Angst“, sagte er plötzlich zu ihr, ohne Erklärung, wie eine Feststellung, die keinen Widerspruch duldete, mit einer harschen, leblosen Stimme, in der etwas Verwunderung lag.
Sie sah ihn an. „Nein“, sagte sie. „Habe ich nicht.“
„Ich weiß, wer John Galt ist“, sagte der Landstreicher. „Es ist ein Geheimnis, aber ich kenne es.“
„Wer?“, fragte sie ohne Interesse.
„Ein Entdecker“, sagte der Landstreicher. „Der größte Entdecker, der je gelebt hat. Der Mann der die Quelle der ewigen Jugend entdeckt hat.“
„Geben Sie mir noch eine Tasse. Schwarz“, sagte der alte Mann und schob seine Tasse über die Theke.
„John Galt hat viele Jahre lang danach gesucht. Er überquerte Ozeane, durchquerte Wüsten und stieg hinab in vergessene Bergwerke, viele Meilen unter der Erde. Aber er fand sie auf der Spitze eines Berges. Er brauchte zehn Jahre, um diesen Berg zu erklimmen. Es brach ihm jeden Knochen seines Körpers, es riss ihm die Haut von den Händen, er verlor dadurch sein Zuhause, seinen Namen, seine Liebe. Aber er erklomm ihn. Er fand die Quelle der ewigen Jugend und wollte sie hinunter zu den Menschen tragen. Nur kam er nie zurück.“
„Warum nicht?“, fragte sie.
„Weil er erkannte, dass sie nicht hinuntergebracht werden konnte.“
*
Der Mann, der vor Reardens Schreibtisch saß, hatte ein ausdrucksloses Gesicht und ein Auftreten, das frei von jedem Nachdruck war, sodass man sich weder ein genaues Bild von seiner äußeren Erscheinung machen noch erkennen konnte, worin seine Beweggründe bestanden. Sein einziges Erkennungsmerkmal schien eine Knollennase zu sein, die im Vergleich zum Rest ein wenig zu groß geraten war; sein Verhalten war demütig, jedoch mit einem grotesken Unterton, der Andeutung einer Drohung, die er bewusst versteckte, die aber dennoch spürbar sein sollte. Rearden konnte den Zweck seines Besuchs nicht verstehen. Der Mann war Dr. Potter, der eine unbestimmte Position im State Science Institute innehatte.
„Was wollen Sie?“, fragte Rearden bereits zum dritten Mal.
„Es ist der soziale Aspekt, den ich Sie bitte zu betrachten, Mr. Rearden“, sagte der Mann mild. „Ich fordere Sie auf, den Zeiten, in denen wir leben, gerecht zu werden. Unsere Wirtschaft ist noch nicht reif dafür.“
„Wofür?“
„Unsere Wirtschaft befindet sich in einem äußerst prekären Gleichgewicht. Wir müssen uns gemeinsam bemühen, sie vor dem Zusammenbruch zu bewahren.“
„Was wollen Sie, was soll ich tun?“
„Dies sind die Betrachtungen, auf die ich Sie bitte, Ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Ich komme vom State Science Institute, Mr. Rearden.“
„Das sagten Sie bereits. Aber was ist der Grund Ihres Besuches?“
„Das State Science Institute hat keine positive Meinung über Rearden-Metall.“
„Auch das sagten Sie bereits.“
„Halten Sie das nicht für einen Aspekt, den Sie in Betracht ziehen sollten?“
„Nein.“
Das Licht in den großen Bürofenstern nahm langsam ab. Die Tage waren kurz. Rearden sah den unregelmäßigen Schatten, den die Nase
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