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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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langer Zeit einmal ein Bürogebäude gewesen; sie konnte durch das nackte Stahlskelett und die eckigen Überbleibsel der zusammengebrochenen Ziegelmauern den Himmel sehen. Im Schatten dieser Ruine, wie ein Grashalm, der an den Wurzeln eines toten Baumriesen ums Überleben kämpft, befand sich ein kleines Lokal. Seine Fenster waren ein helles Band aus Glas und Licht. Sie trat ein.
    Innen stand eine saubere Theke, die mit einem glänzenden Chromstreifen umrandet war. Ein Kaffeekocher aus blank poliertem Metall war zu sehen, und es duftete nach Kaffee. Einige heruntergekommene Gestalten saßen an der Theke, dahinter stand ein stämmiger älterer Mann, der die Ärmel seines sauberen weißen Hemdes bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Die warme Luft, die sie dankbar spürte, machte ihr erst bewusst, dass ihr kalt gewesen war. Sie zog ihren schwarzen Samtumhang fest um sich und setzte sich an die Theke.
    „Eine Tasse Kaffee, bitte“, sagte sie.
    Die Männer sahen sie ohne jede Neugierde an. Sie schienen nicht darüber erstaunt zu sein, dass eine Frau in Abendgarderobe ein einfaches Lokal betrat; nichts konnte in diesen Zeiten mehr irgendjemanden erstaunen. Teilnahmslos führte der Inhaber ihre Bestellung aus; in seiner stumpfen Gleichgültigkeit lag die Art von Gnade, die keine Fragen stellt.
    Sie hätte nicht sagen können, ob die vier Gestalten an der Theke Bettler oder arbeitende Männer waren. Weder Kleidung noch Benehmen ließen in diesen Tagen den Unterschied erkennen. Der Inhaber stellte einen Becher Kaffee vor sie hin. Sie umschloss ihn mit beiden Händen und freute sich über die Wärme.
    Sie blickte sich um und dachte mit der gewohnten professionellen Berechnung, wie schön es war, dass man für ein Zehncentstück so viel kaufen konnte. Ihr Blick schweifte von dem rostfreien Stahlzylinder des Kaffeekochers über die gusseiserne Grillplatte weiter zu den Glasregalen, der emaillierten Spüle, den verchromten Rührhaken eines Mixers. Der Inhaber toastete Brot. Sie freute sich an dem Anblick der sinnreichen Erfindung eines offenen Fließbandes, das in einer langsamen Bewegung die Scheiben Brot an glühenden Heizspiralen vorbeitransportierte. Dann sah sie den Namen, der auf den Toaster geprägt war: Marsh, Colorado.
    Sie ließ ihren Kopf auf ihre Arme auf dem Tresen sinken.
    „Es hat keinen Sinn, Lady“, sagte der verwahrloste alte Mann, der neben ihr saß.
    Sie konnte nicht anders, als ihren Kopf zu heben. Sie musste erheitert lächeln, über ihn und über sich selbst.
    „Hat es nicht?“, fragte sie.
    „Nein. Vergessen Sie’s. Sie machen sich nur etwas vor.“
    „Worüber?“
    „Darüber, dass irgendwas einen Wert haben könnte. Es ist nur Staub, Lady, alles, Staub und Blut. Glauben Sie nicht an die Träume, mit denen sie Sie vollpumpen, und Sie werden nicht verletzt werden.“
    „Welche Träume?“
    „Die Geschichten, die sie Ihnen erzählen, wenn Sie klein sind – über den menschlichen Geist. Es gibt keinen menschlichen Geist. Der Mensch ist nichts weiter als ein niedriges Tier, ohne Intellekt, ohne Seele, ohne Tugenden oder Moral. Ein Tier, das nur zwei Fähigkeiten hat: zu essen und sich zu vermehren.“
    In seinem hageren Gesicht mit den starren Augen und den zusammengefallenen, ehemals feinen Gesichtszügen war immer noch eine Spur von Vornehmheit zu erkennen. Er wirkte wie das Fossil eines Predigers oder Ästhetikprofessors, der viele Jahre stiller Kontemplation in dunklen Museen verbracht hatte. Sie fragte sich, was ihn wohl zerstört hatte, welcher Fehler einen Mann so weit bringen konnte.
    „Sie gehen durch das Leben auf der Suche nach Schönheit, nach Größe, nach erhabenen Leistungen“, sagte er. „Und was finden Sie? Eine raffinierte Maschinerie, um gepolsterte Autositze und Federkernmatratzen herzustellen.“
    „Was ist an Federkernmatratzen schlecht?“, fragte ein Mann, der aussah wie ein Lastwagenfahrer. „Kümmern Sie sich nicht um ihn, Lady. Er hört sich gerne selbst reden. Er ist harmlos.“
    „Die einzige Begabung des Menschen ist eine unanständige Geschicklichkeit, wenn es um die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse geht“, sagte der alte Mann. „Dazu braucht man nicht intelligent zu sein. Glauben Sie die Geschichten über den Verstand des Menschen, über seinen Geist, seine Ideale und seinen Sinn für unendliches Streben nicht.“
    „Ich glaube sie nicht“, sagte ein junger Mann, der am Ende der Theke saß. Er trug einen Mantel, der an einer Schulter

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