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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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gebückt waren. Alle waren bewaffnet mit irgendetwas, das sie gefunden hatten, von teuren Gewehren bis hin zu verstaubten Musketen. Und alle trugen Eisenbahnermützen. Es waren die Söhne von Taggart-Mitarbeitern und alte Eisenbahner, die sich nach einem ganzen Leben im Dienst von Taggart zur Ruhe gesetzt hatten. Sie alle waren aus freien Stücken gekommen, um diesen Zug zu bewachen. Als die Lokomotive an ihnen vorbeizog, stand jeder von ihnen stramm und präsentierte als Salut sein Gewehr.
    Als sie es begriff, begann sie zu lachen, so plötzlich, dass es wie ein Aufschrei klang. Sie lachte, und es schüttelte sie wie ein Kind; es war wie ein erleichtertes Schluchzen. Pat Logan nickte ihr mit einem kaum merklichen Lächeln zu; er hatte die Ehrengarde längst bemerkt. Sie lehnte sich aus dem offenen Fenster und schwenkte ihren Arm in großen, triumphierenden Kreisen, als sie den Menschen an der Strecke zuwinkte.
    Auf dem Gipfel eines entfernten Hügels sah sie eine Gruppe von Menschen, die die Arme in die Höhe warfen. Die grauen Häuser eines Dorfes waren in dem darunterliegenden Tal verstreut, als wären sie dort abgeworfen und vergessen worden; die Firste der Dächer waren schief und eingebrochen, und die Jahre hatten die Farbe von den Fassaden gewaschen. Vielleicht hatten hier Generationen von Menschen gelebt, für die das Verstreichen der Tage lediglich durch die Bewegung der Sonne von Osten nach Westen angezeigt wurde. Heute waren diese Menschen den Hügel hinaufgestiegen, um den Kometen mit dem silbernen Haupt zu sehen, der durch ihre Ebene schnitt wie der Ton eines Horns durch eine lange, schwere Stille.
    Als die Häuser zahlreicher wurden und näher an die Schienen heranrückten, sah sie Menschen an Fenstern, auf Veranden und fernen Dächern. Sie sah Gruppen von Menschen, die die Straßen an den Bahnübergängen blockierten. Die Straßen zischten vorbei wie die Stäbe eines Fächers. Sie konnte keine einzelnen Menschen erkennen, lediglich ihre Arme, die den Zug begrüßten und wie Zweige in seinem Fahrtwind winkten. Sie standen unter den blinkenden roten Lampen der Warnsignale oder neben den Schildern an den Bahnübergängen, auf denen stand: „Halten! Schauen! Hören!“
    Der Bahnhof, den sie mit hundert Meilen pro Stunde durchflogen – die gleiche Geschwindigkeit, mit der sie auch durch Städte fuhren –, war eine einzige sich bewegende Menschenskulptur, vom Bahnsteig bis zum Dach. Sie erhaschte ein kurzes Streiflicht winkender Arme, von Hüten, die in die Luft geworfen wurden, von etwas, das gegen die Flanke der Lokomotive geworfen wurde – es war ein Blumenstrauß.
    Wie sie Meile um Meile hinter sich ließen, zogen auch Städte an ihnen vorbei; mit den Bahnhöfen, an denen sie nicht hielten, mit den Menschenmengen, die nur gekommen waren, um zu schauen, zu jubeln und zu hoffen. Sie sah Blumengirlanden an den rußgeschwärzten Dachrinnen alter Bahnhofsgebäude und rot-weiß-blaue Wimpelketten auf den vom Zahn der Zeit zerfressenen Fassaden. Es war wie auf den Bildern von Eisenbahnen, die sie voller Neid in Schulbüchern gesehen hatte – Bilder einer Zeit, als die Menschen noch zusammenkamen, um den ersten Zug einer neuen Linie zu begrüßen. Es war wie die Zeit, als Nat Taggart durch das Land reiste und die Haltestellen entlang seines Weges von Menschen gesäumt waren, die vom Anblick seiner Leistung begeistert waren. Diese Ära, hatte sie gedacht, sei vorüber; Generationen waren seither vergangen ohne ein Ereignis, das man begrüßen konnte, ohne dass es etwas zu sehen gegeben hätte außer den Jahr für Jahr länger werdenden Rissen in den von Nat Taggart erbauten Mauern. Und doch waren die Menschen wiedergekommen, wie sie damals zu seinen Zeiten gekommen waren, angelockt aus denselben Gründen.
    Sie sah hinüber zu Rearden. Er lehnte an der Wand, ohne die Menschenmengen zu sehen, gleichgültig gegenüber all der Bewunderung. Er beobachtete das Verhalten der Schienen und des Zuges mit dem aufmerksamen, professionellen Interesse eines Fachmannes. Seine Haltung verriet, dass er Gedanken wie „Die Leute mögen es!“ als unerheblich verwerfen würde, denn der Gedanke, der alle anderen übertönte, war: „Es funktioniert!“
    Seine große Gestalt in dem einheitlichen Grau seiner Hosen und seines Hemdes wirkte, als wäre sein Körper jederzeit bereit zum Einsatz. Die Hosen betonten seine langen Beine und seine entspannte, feste Haltung, mit der er mühelos dort stand oder bereit gewesen wäre,

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