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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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würde er sie wieder verlassen müssen. Er fragte sich, ob er nicht morgen noch in der Stadt bleiben konnte oder ob er sie sofort verlassen sollte, ohne Dagny zu sehen, damit er warten konnte und ihn immer vor sich hatte: den Augenblick, in dem er die Arme um ihre Schultern schloss und auf ihr Gesicht hinabblickte. Du wirst verrückt, dachte er – aber er wusste, dass es genauso wäre, wenn sie zu jeder Stunde seines Lebens an seiner Seite wäre, er würde niemals genug davon bekommen, er würde irgendeine sinnlose Form der Folter für sich entwickeln müssen, um es zu ertragen. Er wusste, dass er sie heute Abend sehen würde, und der Gedanke zu gehen, ohne sie zu sehen, steigerte die Vorfreude, ein quälender Augenblick, der seine Gewissheit der folgenden Stunden unterstrich. Er würde in ihrem Wohnzimmer das Licht anlassen, dachte er, und sie quer über dem Bett liegend festhalten und nichts sehen außer dem geschwungenen Lichtstreifen, der von ihrer Taille bis hinunter zu ihren Fesseln lief, eine einzige Linie, die die gesamte Silhouette ihres langen, schlanken Körpers in der Dunkelheit nachzeichnete. Dann würde er ihren Kopf ins Licht ziehen, um ihr Gesicht zu sehen, zu sehen, wie es zurückfiel, wehrlos, ihr Haar auf seinem Arm, ihre Augen geschlossen, das Gesicht wie vor Schmerzen angespannt, ihr Mund für ihn geöffnet.
    Er lehnte an der Wand und wartete, damit alle Ereignisse des Tages von ihm abfielen, um sich frei zu fühlen und zu wissen, dass diese nächsten Stunden ihm gehörten.
    Als die Tür zu seinem Zimmer ohne Vorwarnung aufflog, konnte er es zunächst kaum fassen oder glauben. Er sah den Umriss einer Frau, dann den eines Pagen, der einen Koffer niederstellte und verschwand. Die Stimme, die er hörte, war Lillians: „Na, Henry? Ganz allein in der Finsternis?“
    Sie betätigte den Lichtschalter neben der Tür. Da stand sie, sorgfältig herausgeputzt in einem beigen Reisekostüm, das aussah, als wäre sie unter Glas gereist. Sie lächelte und legte ihre Handschuhe ab, als käme sie eben nach Hause.
    „Bleibst du heute Abend hier, Liebling?“, fragte sie. „Oder wolltest du ausgehen?“
    Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, bevor er antwortete: „Was tust du hier?“
    „Erinnerst du dich nicht, dass Jim Taggart uns zu seiner Hochzeitsfeier eingeladen hat? Sie ist heute Abend.“
    „Ich hatte nicht die Absicht, zu seiner Hochzeitsfeier zu gehen.“
    „Oh, aber ich!“
    „Warum hast du mir das nicht heute Morgen gesagt, bevor ich weggefahren bin?“
    „Um dich zu überraschen, Liebling.“ Sie lachte vergnügt. „Es ist praktisch unmöglich, dich zu irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis zu schleppen, aber ich dachte, auf diese Art wärst du vielleicht bereit, einfach ganz spontan mit mir auszugehen und dich zu amüsieren, wie verheiratete Paare es eben tun. Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen – du bist so oft über Nacht in New York geblieben!“
    Er sah den flüchtigen Blick, den sie ihm unter der Krempe ihres modisch schräg auf dem Kopf sitzenden Hutes zuwarf. Er erwiderte nichts.
    „Natürlich bin ich damit ein Risiko eingegangen“, sagte sie. „Es hätte ja sein können, dass du jemanden zum Abendessen ausführst.“ Er erwiderte nichts. „Oder hattest du vielleicht die Absicht, heute Abend nach Hause zu kommen?“
    „Nein.“
    „Hattest du eine Verabredung für heute Abend?“
    „Nein.“
    „Gut.“ Sie zeigte auf ihren Koffer. „Ich habe meine Abendgarderobe mitgebracht. Ich wette mit dir um ein Sträußchen Orchideen, dass ich schneller angezogen bin als du.“
    Er dachte daran, dass Dagny heute Abend auf der Hochzeitsfeier ihres Bruders sein würde; der Abend bedeutete ihm nun nichts mehr. „Ich gehe mit dir aus, wenn du möchtest“, sagte er, „aber nicht zu dieser Hochzeit.“
    „Aber genau dorthin möchte ich gehen. Es ist das absurdeste Ereignis der Saison, und alle freuen sich schon seit Wochen darauf, alle meine Freunde. Ich möchte es um nichts in der Welt verpassen. Es gibt in der ganzen Stadt kein besseres Schauspiel – oder eines, für das mehr Reklame gemacht wurde. Es ist eine völlig lächerliche Hochzeit, aber genau das, was man von Jim Taggart erwarten würde.“
    Wie zufällig schlenderte sie durch das Zimmer und sah sich um, als wollte sie sich mit einer ungewohnten Umgebung vertraut machen. „Ich war schon seit Jahren nicht mehr in New York“, sagte sie, „jedenfalls nicht mit dir. Zu keinem offiziellen Anlass.“
    Er

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