Der Streik
leer; ihre Mitarbeiter waren gegangen. Nur Eddie Willers war noch immer da, an seinem Schreibtisch in dem Glaskasten, der in der Ecke des großen Raumes aussah wie ein Würfel aus Licht. Sie winkte ihm auf ihrem Weg nach draußen zu.
Sie fuhr mit dem Aufzug nicht in die Lobby des Gebäudes, sondern hinunter in die Halle des Taggart Terminals. Sie mochte es, auf ihrem Nachhauseweg hindurchzugehen.
Für sie hatte die Bahnhofshalle immer wie ein Tempel ausgesehen. Wenn man zur Decke emporsah, konnte man im Halbdunkel das Gewölbe erkennen, das von riesigen Granitsäulen getragen wurde, und den oberen Teil der großen Fenster, die glänzten, wenn es draußen dunkel war. Das Gewölbe spannte sich hoch oben schützend über die hektische Betriebsamkeit der Menschen und vermittelte die feierliche Ruhe einer Kathedrale.
Inmitten der Halle, aber unbeachtet von den Reisenden, die den Anblick gewohnt waren, ragte die Statue von Nathaniel Taggart, dem Gründer des Unternehmens, empor.
Dagny war die Einzige, die immer noch darauf achtete und für die der Anblick nie selbstverständlich werden würde. Die Statue zu betrachten, sooft sie die Bahnhofshalle durchquerte, war die einzige Form von Gebet, die sie kannte.
Nathaniel Taggart war ein mittelloser Abenteurer gewesen, der von irgendwo aus Neuengland gekommen war und in den Tagen der ersten Stahlschienen eine Bahnstrecke quer über einen ganzen Kontinent baute. Seine Eisenbahn gab es immer noch; der Kampf, den er geführt hatte, um sie zu errichten, war zur Legende geworden, weil die Leute es vorzogen, ihn nicht zu verstehen oder nicht für möglich zu halten.
Er war ein Mann gewesen, der niemandem das Recht zugestand, ihn aufzuhalten. Er setzte sich ein Ziel und arbeitete darauf hin, auf eine Art, die so geradlinig war wie seine Schienen. Er bat niemals um Darlehen, Anleihen, Subventionen, Landzuweisungen oder rechtliche Besserstellung durch die Regierung. Er bekam das Geld von den Leuten, die welches hatten, indem er von Tür zu Tür ging – von den Mahagonitüren der Bankiers bis zu den Schindeltüren entlegener Farmhäuser. Er sprach niemals von Gemeinwohl. Er sagte den Leuten lediglich, dass sie mit seiner Eisenbahn viel Geld verdienen würden, und nannte ihnen auch die Gründe, warum er mit Gewinnen rechnete. Er hatte gute Gründe. Über all die nachfolgenden Generationen hinweg blieb Taggart Transcontinental eine der wenigen Eisenbahngesellschaften, die nie Bankrott machten, und die einzige, deren Aktien mehrheitlich immer noch den Nachkommen des Gründers gehörten.
Zu seinen Lebzeiten war der Name „Nat Taggart“ nicht berühmt, sondern berüchtigt. Man sprach ihn nicht mit Bewunderung aus, sondern mit vorwurfsvoller Neugierde. Und wenn jemand ihn bewunderte, dann wie einen erfolgreichen Banditen. Dennoch hatte er keinen einzigen Cent seines Vermögens mit Gewalt oder Betrug verdient, man konnte ihm nichts vorwerfen, außer dass er sein eigenes Vermögen geschaffen hatte und niemals vergaß, dass es ihm allein gehörte.
Viele Geschichten wurden über ihn erzählt. Es hieß, er habe er in der Wildnis des Mittleren Westens den Abgeordneten eines Bundesstaates ermordet, der versucht habe, Taggart eine bereits erteilte Lizenz wieder zu entziehen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als der Bau der Schienen schon bis in die Mitte des Staates fortgeschritten war. Einige Abgeordnete hatten geglaubt, durch Leerverkäufe ein Vermögen mit Taggart-Aktien machen zu können. Nat Taggart wurde des Mordes angeklagt, aber die Tat konnte ihm nie nachgewiesen werden. Danach hatte er nie wieder Probleme mit Abgeordneten.
Es hieß auch, Nat Taggart habe des Öfteren sein Leben für die Eisenbahn aufs Spiel gesetzt. Doch einmal ging es nicht nur um sein eigenes Leben. Verzweifelt auf der Suche nach Kapital für eine Bahnstrecke, deren Bau bereits unterbrochen werden musste, warf er einen distinguierten Herrn eineinhalb Stockwerke eine Treppe hinunter, weil dieser ihm eine Staatsanleihe anbot. Dann verpfändete er seine Frau als Sicherheit für einen Kredit an einen Millionär, der ihn hasste, doch ihre Schönheit bewunderte. Er zahlte den Kredit pünktlich zurück und musste sein Pfand nicht herausgeben. Das Geschäft hatte mit der Zustimmung seiner Frau stattgefunden. Sie war eine wahre Schönheit, die aus der vornehmsten Familie eines der Südstaaten stammte, und sie war von ihrer Familie enterbt worden, als sie mit Nat Taggart, der damals noch ein junger, zerlumpter Abenteurer war,
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