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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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durchbrannte.
    Manchmal bereute Dagny die Tatsache, dass Nat Taggart ihr Vorfahr war. Sie empfand für ihn viel mehr als nur die Zuneigung, die man zu Personen hegt, deren Verwandtschaft man sich nicht ausgesucht hat. Sie wollte ihm nicht das Gefühl entgegenbringen, das man gemeinhin einem Onkel oder Großvater schuldet. Sie war unfähig, Dinge zu lieben, die sie sich nicht selbst ausgesucht hatte, und ärgerte sich, wenn irgendjemand es von ihr forderte. Wenn sie jedoch die Möglichkeit gehabt hätte, sich einen Vorfahren auszusuchen, hätte sie Nat Taggart gewählt, als freiwillige Reverenz und mit all ihrer Dankbarkeit.
    Nat Taggarts Statue war anhand der Zeichnung eines Künstlers entstanden – dem einzigen Bild, das jemals von ihm gemacht worden war. Er war sehr alt geworden, doch man konnte ihn sich nie anders vorstellen als auf dieser Zeichnung – als einen jungen Mann. In ihrer Kindheit war diese Statue für Dagny das Erste gewesen, was Erhabenheit verkörperte. Wenn sie in der Schule oder in der Kirche Leute dieses Wort verwenden hörte, glaubte sie zu wissen, was sie meinten: Sie dachte an die Statue.
    Die Statue stellte einen jungen Mann mit großer, hagerer Statur und einem kantigen Gesicht dar. Er hielt seinen Kopf, als schaute er einer Herausforderung entgegen und als freute er sich über seine Fähigkeit, sich ihr zu stellen. Alles, was Dagny sich im Leben erhoffte, war in dem Wunsch eingeschlossen, ihren Kopf so halten zu können wie er.
    Auch an diesem Abend sah sie die Statue an, während sie durch die Bahnhofshalle ging. Es war ein Moment des Innehaltens; es war, als würde eine ungenannte Bürde von ihren Schultern genommen und als berührte ein leiser, kühler Lufthauch ihre Stirn.
    In einer Ecke der Halle, in der Nähe des Haupteinganges, befand sich ein kleiner Zeitungsladen. Der Besitzer, ein stiller, höflicher alter Mann mit kultiviertem Auftreten, hatte die vergangenen zwanzig Jahre hinter diesem Ladentisch gestanden. Früher hatte er eine Zigarettenfabrik besessen, doch sie war bankrottgegangen, und er hatte sich daraufhin in die einsame Anonymität seines kleinen Ladens inmitten eines unaufhörlichen Strudels von Fremden zurückgezogen. Er hatte weder Familie noch Freunde, die noch lebten. Seine einzige Freude war sein Hobby: Er trug Zigaretten von überall auf der Welt für seine private Sammlung zusammen. Er kannte jede einzelne Marke, die es gab oder die jemals produziert worden war.
    Dagny blieb auf ihrem Weg nach draußen gerne bei ihm stehen. Für sie war er ein Teil des Taggart Terminals, wie ein alter Wachhund, der zwar schon zu schwach ist, um ihn wirklich zu verteidigen, der aber allein durch seine zuverlässige Anwesenheit ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Er freute sich, wenn er sie kommen sah, weil es ihn amüsierte, dass nur er allein um die Bedeutung der jungen Frau mit dem sportlichen Blazer und dem schiefen Hut wusste, die unerkannt durch die Menge eilte.
    Auch diesmal hielt sie wie üblich an, um eine Schachtel Zigaretten zu kaufen. „Wie geht es Ihrer Sammlung?“, fragte sie. „Irgendwelche neuen Exponate?“
    Mit einem traurigen Lächeln schüttelte er den Kopf. „Nein, Miss Taggart. Nirgendwo auf der Welt werden neue Marken hergestellt. Sogar die alten verschwinden, eine nach der anderen. Es werden nur noch fünf oder sechs verkauft. Dabei gab es einmal Dutzende. Die Leute machen nichts Neues mehr.“
    „Das werden sie wieder. Das geht vorüber.“
    Er sah sie an und antwortete nicht. Dann sagte er: „Ich mag Zigaretten, Miss Taggart. Mir gefällt die Vorstellung von Feuer in der Hand eines Menschen. Feuer, eine gefährliche Kraft, gezähmt zwischen zwei Fingerspitzen. Ich stelle mir oft vor, wie ein Mann alleine stundenlang dasitzt, den Rauch seiner Zigarette beobachtet und nachdenkt. Ich frage mich, wie viele großartige Ideen solchen Stunden entsprungen sind. Wenn ein Mensch denkt, dann brennt eine Flamme in seinem Geist – und es ist nur richtig, dass er dem mit einer glühenden Zigarette Ausdruck verleiht.“
    „Denken denn die Menschen überhaupt?“, fragte sie unwillkürlich und hielt inne. Diese Frage war die einzige, die sie quälte, und sie wollte eigentlich nicht darüber diskutieren.
    Der alte Mann sah sie an, als hätte er ihr plötzliches Verstummen wahrgenommen und verstanden. Aber er begann keine Diskussion darüber, sondern sagte stattdessen: „Mir gefällt nicht, was mit den Menschen passiert, Miss Taggart.“
    „Was

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