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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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als sie jemals zuvor besessen hatten. Ein Kampf in der Stille der Dunkelheit, der Einsamkeit, der seltenen Nächte, in denen ein Orchester eines seiner Werke spielte und er in dem Wissen in die Dunkelheit starrte, dass seine Seele sich in zitternden konzentrischen Wellen von der Radiostation durch die Luft der Stadt ausbreitete, aber niemand sein Radiogerät eingeschaltet hatte, um ihn zu hören.
    „Die Musik von Richard Halley ist von heroischer Natur. Unsere Zeit ist über solche Dinge hinausgewachsen“, schrieb einmal ein Kritiker. „Richard Halleys Musik passt nicht mehr zu unserer Zeit. Sie hat einen ekstatischen Klang. Und wer braucht heute noch Ekstase?“, schrieb ein anderer.
    Sein Leben war die Summe der Leben aller Menschen, deren Anerkennung in einer Statue in einem öffentlichen Park besteht, hundert Jahre nachdem Anerkennung ihnen noch etwas bedeutet hätte – außer dass Richard Halley nicht früh genug gestorben war. Er erlebte den Abend, den er den anerkannten Gesetzen der Geschichte zufolge nicht bestimmt war mitzuerleben. Er war dreiundvierzig Jahre alt, und es war die Premiere von Phaethon , einer Oper, die er im Alter von vierundzwanzig geschrieben hatte. Er hatte den antiken griechischen Mythos für seine Zwecke angepasst und ihm eine neue Bedeutung gegeben: Phaethon, der junge Sohn des Helios, der seines Vaters Sonnenwagen stahl und mit kühnem Ehrgeiz versuchte, die Sonne über den Himmel zu ziehen, starb, anders als im Mythos, in Halleys Oper nicht, er triumphierte. Damals, vor neunzehn Jahren, war die Oper einmal unter Buhrufen und Pfiffen aufgeführt und dann aus dem Programm genommen worden. An jenem Abend war Richard Halley bis zum Morgengrauen durch die Stadt geirrt, auf der Suche nach einer Antwort auf eine Frage, die er nicht fand.
    An dem Abend, an dem die Oper wieder aufgenommen wurde, neunzehn Jahre später, gingen die letzten Akkorde in den größten Beifallsstürmen unter, die das Opernhaus jemals erlebt hatte. Das alte Gemäuer konnte die Jubelrufe nicht dämpfen, sie drangen durch in die Lobby, zu den Treppen, hinaus auf die Straßen, bis zu dem jungen Mann, der vor neunzehn Jahren durch diese Straßen geirrt war.
    Dagny hatte an diesem Abend des Jubels im Publikum gesessen. Sie war eine der wenigen Bewunderer, die Halleys Musik bereits viel früher gekannt hatten. Aber sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Sie beobachtete, wie man ihn auf die Bühne schob, wie er einer riesigen Menge von winkenden Händen und Bravo rufenden Köpfen gegenübertrat. Er stand regungslos da: ein großgewachsener, abgemagerter Mann mit ergrauendem Haar. Er verbeugte sich nicht und lächelte nicht. Er stand nur da und blickte in die Menge. Sein Gesicht hatte den ruhigen, ernsten Ausdruck eines Mannes, der vor einem Rätsel steht.
    „Die Musik von Richard Halley“, schrieb ein Kritiker am nächsten Morgen, „gehört der Menschheit. Sie ist das Produkt und der Ausdruck der menschlichen Größe.“ „Das Leben von Richard Halley“, sagte ein Minister, „sollte uns allen als Vorbild dienen. Er durchlebte einen schrecklichen Kampf, aber was zählt das jetzt noch? Es ist richtig, es ist großzügig von ihm, dass er trotz Leiden, Ungerechtigkeit und Beschimpfungen, die er durch seine Mitmenschen erfahren hat, nun ihr Leben bereichert und sie lehrt, die Schönheit großer Musik zu schätzen.“
    Am Tag nach der Premiere setzte sich Richard Halley zur Ruhe.
    Er gab keine Gründe dafür an. Er teilte lediglich seinen Verlegern mit, dass seine Karriere beendet sei. Er verkaufte ihnen die Rechte an seinen Werken für eine moderate Summe, obwohl er wusste, dass seine Tantiemen ihm nun ein Vermögen einbringen würden. Er ging fort und hinterließ keine Adresse. Das war vor acht Jahren gewesen. Niemand hatte ihn seither gesehen.
    Dagny lauschte dem vierten Konzert, den Kopf zurückgeworfen und die Augen geschlossen. Sie lag halb ausgestreckt quer über eine Ecke ihrer Couch, ihr Körper war gelöst und ruhig, nur die Form ihres Mundes wurde durch eine Spannung in ihrem regungslosen Gesicht hervorgehoben. Es war eine sinnliche Form, wie von Sehnsucht geschaffen.
    Nach einer Weile öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel auf die Zeitung, die sie auf die Couch geworfen hatte. Abwesend griff sie danach, um sie aufzuschlagen, sie wollte die nichtssagenden Schlagzeilen nicht sehen. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto von einem Gesicht, das sie kannte, und die Überschrift zu einem Bericht. Sie schlug die Zeitung

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