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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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des Menschen.“
    Sie ging an einem Kino vorbei, dessen helle Lichter einen halben Häuserblock verschwinden ließen, sodass nur eine riesige Fotografie und einige erleuchtete Buchstaben in der Luft zu schweben schienen. Das Foto zeigte eine lächelnde, junge Frau. Wenn man in ihr Gesicht sah, überkam einen das Gefühl, es schon seit Jahren bis zum Überdruss gesehen zu haben, auch wenn man es zum ersten Mal sah. Die Schrift besagte: „… in einem packenden Drama, das eine Antwort auf die große Frage gibt: Soll eine Frau sprechen?“
    Sie ging an der Tür eines Nachtclubs vorbei. Ein Paar stolperte heraus und auf ein Taxi zu. Die Wimperntusche des Mädchens war verschmiert, ihr Gesicht verschwitzt. Sie trug einen Hermelinumhang und ein wunderschönes Abendkleid, das ihr auf einer Seite von der Schulter gerutscht war wie der Bademantel einer schlampigen Hausfrau und zu viel von ihrer Brust zeigte – nicht absichtlich frivol, sondern mit der Gleichgültigkeit einer Sklavin. Ihr Begleiter führte sie, indem er ihren nackten Arm fest umklammert hielt. Sein Gesicht hatte nicht den Ausdruck eines Mannes, der sich auf ein romantisches Abenteuer freut, sondern den verschlagenen Blick eines Jugendlichen, der Obszönitäten auf Zäune schreibt.
    Was hatte sie gehofft zu finden?, dachte sie im Weitergehen. Das waren die Dinge, die das Leben der Menschen ausmachten, die Art ihres Geistes, ihrer Kultur, ihres Vergnügens. Sie hatte schon seit Jahren nirgendwo mehr etwas anderes gesehen.
    An der Ecke der Straße, in der sie wohnte, kaufte sie eine Zeitung und ging nach Hause.
    Ihre Wohnung bestand aus zwei Zimmern in der obersten Etage eines Wolkenkratzers. Die Glaspaneele des Eckfensters in ihrem Wohnzimmer erinnerten sie an den Bug eines fahrenden Schiffes, und die Lichter der Stadt waren wie leuchtende Funken auf den schwarzen Wogen aus Stein und Stahl. Wenn sie eine Lampe einschaltete, zerschnitten lange, dreieckige Schatten die nackten Wände in ein geometrisches Muster aus Lichtstrahlen, die von den wenigen eckigen Möbelstücken unterbrochen wurden.
    Sie stand in der Mitte des Raumes, allein zwischen dem Himmel und der Stadt. Es gab nur eine Sache, die ihr das Gefühl verschaffen konnte, nach dem sie heute suchte. Es war der einzige Quell der Freude, den sie kannte. Sie ging zu ihrem Schallplattenspieler und legte eine Platte mit der Musik von Richard Halley auf.
    Es war sein viertes Konzert, das letzte seiner Werke. Das Tosen der Anfangsakkorde ließ sie alle Bilder der Stadt vergessen. Das Konzert war ein grandioser Aufschrei der Empörung. Es war ein „Nein!“, das brutaler Folter entgegengeschleudert wird, eine Absage an das Leiden, eine Absage, die die Qual des Befreiungskampfes in sich birgt. Die Klänge waren wie eine Stimme, die sagte: Schmerz ist keine Notwendigkeit. Warum aber ist der schlimmste Schmerz gerade jenen vorbehalten, die seine Notwendigkeit nicht akzeptieren? Wir, die wir die Liebe und das Geheimnis der Freude in uns tragen, zu welcher Strafe wurden wir dafür verurteilt, und von wem? … Die Klänge der Folter steigerten sich zum Widerstand, Qual wandelte sich in eine Hymne auf eine ferne Vision, die es wert war, dass man jede Art des Leidens für sie ertrug, auch dieses. Es war ein Lied der Empörung – und einer verzweifelten Suche.
    Sie saß mit geschlossenen Augen still da und hörte zu.
    Niemand wusste, was mit Richard Halley geschehen war oder warum. Sein Leben las sich wie eine Geschichte, die geschrieben worden war, um Größe zu verdammen, indem sie zeigte, welchen Preis man dafür zahlen musste. Es war eine Aneinanderreihung trostloser Jahre gewesen, die er in Dachkammern und Kellern verbracht hatte. Jahre, die so grau geworden waren wie die Farbe der Wände, die einen Mann umschlossen, dessen Musik vor gewaltiger Farbenpracht überging. Es war das Grau seines Kampfes gegen endlose unbeleuchtete Mietshaustreppen, gegen gefrorene Wasserleitungen, gegen den Preis eines Sandwiches in einem übelriechenden Feinkostladen, gegen die Gesichter der Menschen, die mit leeren Augen Musik hörten. Es war ein Kampf gewesen, in dem er sich nicht durch Gewalt Erleichterung verschaffen konnte, denn es gab keinen bewussten Gegner. Er konnte nur gegen eine taube Wand hämmern, die auf höchst wirkungsvolle Weise schalldicht war: durch Gleichgültigkeit, die Schläge, Akkorde und Schreie verschluckte. Es war der stille Kampf eines Mannes, der Klängen eine größere Beredsamkeit zu verleihen vermochte,

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