Der Streik
anderen an ihre Reflexe. Ganz gleich, wie laut sie auf ihre unversöhnliche Gegnerschaft pochen mögen, sowohl ihre Moralkodizes als auch ihre Ziele gleichen sich: im Materiellen – die Versklavung des menschlichen Körpers, im Geistigen – die Zersetzung seines Verstandes.
Das Gute, so die Mystiker des Geistes, sei Gott, ein Wesen, das allein mit dem Hinweis darauf definiert wird, dass es jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liege – eine Definition, die das Bewusstsein des Menschen entwertet und seine Vorstellungen von Existenz für null und nichtig erklärt. Das Gute, so die Mystiker der Muskeln, sei die Gesellschaft, ein Ding, das sie als Organismus ohne physische Ausprägung definieren, als Überwesen, das durch niemanden im Besonderen und durch jedermann – außer einem selbst – im Allgemeinen verkörpert wird. Der Verstand des Menschen, so die Mystiker des Geistes, müsse dem Willen Gottes untergeordnet werden. Der Verstand des Menschen, so die Mystiker der Muskeln, müsse dem Willen der Gesellschaft untergeordnet werden. Der Wertmaßstab des Menschen, so die Mystiker des Geistes, sei das Wohlgefallen Gottes, dessen Maßstäbe für den Menschen unbegreiflich und im Glauben anzunehmen sind. Der Wertmaßstab des Menschen, so die Mystiker der Muskeln, sei das Wohlgefallen der Gesellschaft, deren Maßstäbe der Mensch sich nicht zu beurteilen anmaßen darf, sondern nach denen er sich kategorisch zu richten hat. Das Ziel des menschlichen Daseins, so behaupten beide, bestehe darin, zu einem unterwürfigen lebenden Toten zu mutieren, der aus Gründen, die er nicht zu hinterfragen hat, einem Zweck dient, den er nicht kennt. Seinen Lohn werde er im Jenseits empfangen, so die Mystiker des Geistes. Seinen Lohn würden im Diesseits einst seine Urgroßenkel empfangen, so die Mystiker der Muskeln.
Eigennutz , behaupten beide, sei etwas Böses im Menschen. Etwas Gutes, behaupten beide, sei es, seine eigenen Wünsche aufzugeben, sich selbst zu verleugnen, Entsagung zu üben und sich zu ergeben. Es sei gut, wenn der Mensch das Leben, das er lebt, negiere. Opferbereitschaft , rufen beide, sei der Kern aller Moral, die höchste dem Menschen erreichbare Tugend.
Ihr unter denen, die mich jetzt hören, ihr, die ihr zu den Opfern gehört, nicht zu den Mördern, ich wende mich an euch am Totenbett eures Verstandes, an der Schwelle zu jener Finsternis, in der ihr ertrinkt, und falls ihr noch die Kraft habt zu kämpfen und euch an jene verglühenden Funken zu klammern, die noch von euch übrig sind – nutzt sie jetzt. Das Wort, das euch zerstört hat, lautet ‚Opfer‘ . Nutzt eure letzte Kraft, um seine Bedeutung zu verstehen. Noch lebt ihr. Noch habt ihr eine Chance.
‚Opfer‘ bedeutet nicht den Verzicht auf Wertloses, sondern auf Wertvolles. ‚Opfer‘ bedeutet nicht den Verzicht auf Böses zugunsten des Guten, sondern auf Gutes zugunsten des Bösen. ‚Opfer‘ ist die Preisgabe dessen, was ihr wertschätzt, zugunsten dessen, was euch nichts wert ist.
Tauscht ihr einen Cent gegen einen Dollar, ist das kein Opfer; tauscht ihr hingegen einen Dollar gegen einen Cent, ist es eines. Schlagt ihr nach Jahren harter Arbeit eine erträumte Laufbahn ein, ist das kein Opfer; verzichtet ihr hingegen zugunsten eines Mitbewerbers darauf, ist es eines. Gebt ihr eurem verhungernden Kind eine Flasche Milch, ist das kein Opfer; gebt ihr sie hingegen dem Kind eures Nachbarn und lasst das eigene sterben, ist es eines.
Gebt ihr einem Freund Geld, um ihm zu helfen, ist das kein Opfer; gebt ihr es hingegen einem nichtswürdigen Fremden, ist es eines. Gebt ihr einem Freund einen Geldbetrag, den ihr euch leisten könnt, ist das kein Opfer; gebt ihr ihm Geld um den Preis eigener Unannehmlichkeiten, habt ihr dieser Moralvorstellung zufolge immerhin notdürftige Tugendhaftigkeit bewiesen; gebt ihr ihm hingegen Geld um den Preis des eigenen Ruins, dann habt ihr die Tugend der Opferbereitschaft voll zur Geltung gebracht.
Entsagt ihr allen eigenen Wünschen und widmet euer Leben denen, die ihr liebt, habt ihr den höchsten Grad der Tugendhaftigkeit noch nicht erreicht, denn ihr habt immer noch einen Gegenwert, nämlich eure Liebe. Größere Tugendhaftigkeit stellt ihr unter Beweis, indem ihr euer Leben beliebigen Fremden widmet. Euer Leben schließlich in den Dienst derer zu stellen, die ihr hasst, das ist die höchste Tugend, die ihr üben könnt.
Ein Opfer ist der Verzicht auf einen Wert. Ein vollwertiges Opfer ist der vollständige
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