Der Streik
erwarb einen Verstand und wurde ein vernunftbegabtes Wesen. Er erlangte Erkenntnis von Gut und Böse – und wurde ein moralbegabtes Wesen. Er wurde dazu verurteilt, sich sein Brot zu erarbeiten – und wurde ein produktives Wesen. Er wurde dazu verurteilt, Verlangen zu entwickeln – und erwarb die Fähigkeit zur geschlechtlichen Lust. Die bösen Eigenschaften, für die sie ihn verdammen, lauten Vernunft, Moral, Kreativität und Freude – alle wesentlichen Werte seiner Existenz. Ihr Mythos vom ersten Fehltritt des Menschen soll nicht etwa seine Laster erklären und verdammen, sie halten ihn nicht etwa seiner Fehler wegen für schuldig, sondern des Kerns seiner menschlichen Natur wegen. Was auch immer jenes Wesen im Garten Eden gewesen sein mag – ein Roboter ohne Verstand, ohne Werte, ohne Arbeit, ohne Liebe – ein Mensch war es nicht.
Euren Lehrern zufolge bestand der Sündenfall des Menschen in der Erlangung der zum Leben erforderlichen Tugenden. Ihrem Maßstab zufolge sind diese Tugenden seine Sünde. Er ist böse, so werfen sie ihm vor, weil er ein Mensch ist. Er ist schuldig, so werfen sie ihm vor, weil er lebt.
Sie nennen das eine Moral der Gnade und eine Lehre der Menschenliebe.
Nein, sagen sie, sie predigen nicht, der Mensch sei böse; böse ist nur jener Fremdkörper: sein Leib. Nein, sagen sie, sie wollen ihn nicht töten; sie wollen ihn lediglich seines Leibes berauben. Sie behaupten, sie wollten seine Schmerzen lindern – und zeigen dabei auf den Folterapparat, auf den sie ihn gespannt haben, die Streckbank, deren Kurbelräder ihn in entgegengesetzte Richtungen ziehen: die Folterbank der Lehre, die seine Seele und seinen Leib trennt.
Sie haben den Menschen in zwei Teile geteilt und eine Hälfte in Gegensatz zur anderen gestellt. Sie haben ihn gelehrt, dass sein Körper und sein Bewusstsein Feinde seien, die miteinander in tödlichem Streit lägen, Widersacher von gegensätzlicher Natur mit widersprüchlichen Ansprüchen und unvereinbaren Bedürfnissen; dass die Befriedigung des einen den anderen verletze; dass seine Seele einem übernatürlichen Reich angehöre, während sein Körper ein böser Kerker sei, der ihn auf dieser Erde gefangen hielte, und dass es tugendhaft sei, seinen Körper zu überwinden, ihn durch Jahre ausdauernden Ringens abzutöten und sich so seinen Weg aus dem Gefängnis in die Freiheit der Gruft zu bahnen.
Sie haben den Menschen gelehrt, er sei eine heillose Verbindung zweier disparater Elemente, die beide den Tod verkörpern. Ein Körper ohne eine Seele ist eine Leiche, eine Seele ohne einen Körper ist ein Gespenst – und doch entspricht das ihrer Vorstellung von der Natur des Menschen: einem Schlachtfeld, auf dem sich eine Leiche und ein Gespenst bekriegen, eine Leiche, die mit einem dubiosen bösen Eigenwillen ausgestattet ist, und ein Gespenst, das über die Einsicht verfügt, dass alles, was der Mensch erkennt, nicht existiert, dass vielmehr nur das Unerkennbare existiert.
Merkt ihr, welches menschliche Vermögen es war, das nach dieser Lehre übergangen werden sollte? Der Verstand war es, der negiert werden musste, damit der Mensch auseinanderfällt. Hatte der Mensch erst seine Vernunft preisgegeben, war er fest in der Hand zweier Ungeheuer, die er weder ergründen noch beherrschen konnte: eines von unerklärlichen Instinkten getriebenen Körpers und einer von mystischen Offenbarungen getriebenen Seele – er selbst wurde das wehrlose, drangsalierte Opfer einer Schlacht zwischen einem Roboter und einem Diktiergerät.
Und jetzt, da er durch den Trümmerhaufen kriecht und blindlings nach einer Möglichkeit des Weiterlebens tastet, bieten eure Lehrer ihm die Unterstützung einer Moral an, der zufolge er keine Lösung finden wird und auf Erden keine Erfüllung erwarten darf. Wirkliche Existenz, so sagen sie ihm, sei das, was er nicht wahrnehmen könne, wahres Bewusstsein sei die Fähigkeit zur Wahrnehmung des Nichtexistenten, und wenn er nicht in der Lage sei, das zu verstehen, belege das die Bosheit seiner Existenz und die Ohnmacht seines Bewusstseins.
Die Ausgeburten dieser Trennung zwischen Seele und Leib des Menschen sind zwei Arten von Lehrern der Moral des Todes: die Mystiker des Geistes und die Mystiker der Muskeln. Ihr nennt sie die Spiritualisten und die Materialisten, solche, die an ein Bewusstsein ohne Existenz, und jene, die an Existenz ohne Bewusstsein glauben. Beide verlangen die Auslieferung eures Verstandes, die einen an ihre Offenbarungen, die
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