Der Streik
Verzicht auf alle Werte. Wollt ihr den höchsten Grad der Tugendhaftigkeit erreichen, dürft ihr keine Dankbarkeit für euer Opfer erwarten, kein Lob, keine Liebe, keine Bewunderung, keine Selbstachtung, nicht einmal Stolz auf die eigene Tugendhaftigkeit, denn die geringste Spur eines eigenen Nutzens schmälert die Tugend. Handelt ihr so, dass ihr euer eigenes Leben nicht durch Freude besudelt, keinerlei materiellen oder geistigen Wert, keinen Nutzen, keinen Profit und keinen Lohn erzielt – erreicht ihr diesen absoluten Nullzustand, habt ihr das Ideal moralischer Vollkommenheit erlangt.
Euch ist gesagt worden, moralische Vollkommenheit sei für den Menschen nicht erreichbar – und nach diesen Maßstäben ist das wahr. Ihr könnt sie nicht erreichen, solange ihr lebt, doch wird der Wert eures Lebens und eurer Person daran gemessen, wie nahe ihr dieser idealen Null, das heißt dem Tod kommt.
Beginnt ihr aber bereits als leidenschaftsloses Vakuum, als ein dahinvegetierendes Wesen, das gefressen werden will, das keinerlei Werte hat, auf die es verzichten und keinerlei Wünsche, denen es entsagen könnte, wird euch die Krone der Opferbereitschaft verwehrt bleiben. Es ist kein Opfer, auf Dinge zu verzichten, die ihr nicht wollt. Es ist kein Opfer, euer Leben für andere hinzugeben, wenn ihr zu sterben wünscht. Um der Tugend der Opferbereitschaft willen, ihr müsst leben wollen, ihr müsst euer Leben lieben, ihr müsst in Leidenschaft für diese Erde und all ihre Pracht entbrannt sein – ihr müsst den Schmerz spüren, mit dem, Stück für Stück, eure Wünsche von euch abgeschnitten werden und die Liebe aus eurem Körper entweicht. Was die Opfermoral euch als Ideal vermittelt, ist nicht einfach der Tod, sondern ein langsamer Foltertod.
Weist mich nicht darauf hin, dass nur das diesseitige Leben davon betroffen sei. Ein anderes interessiert mich nicht. Und euch auch nicht.
Wollt ihr den letzten Rest eurer Würde wahren, dann nennt eure besten Taten nicht ‚Opfer‘, denn allein der Begriff brandmarkt euch als unmoralisch. Verzichtet eine Mutter auf den Kauf eines Hutes, um Essen für ihr hungriges Kind zu kaufen, dann ist das kein Opfer, denn ihr ist das Kind wichtiger als der Hut. Doch für eine Mutter, der der Hut wichtiger ist und die ihr Kind lieber verhungern ließe, es aber aus Pflichtgefühl füttert, ist es ein Opfer. Stirbt ein Mann im Kampf um seine Freiheit, ist das kein Opfer, denn er ist nicht bereit, als Sklave zu leben. Doch für einen Mann, der dazu bereit wäre, ist es ein Opfer. Weigert sich ein Mensch, seine Überzeugungen zu verkaufen, ist das kein Opfer, es sei denn, er gehört zu jener Art Menschen, die keine Überzeugungen hat.
Opfer können nur diejenigen bringen, die nichts zu opfern haben – keine Werte, keine Maßstäbe, kein Urteilsvermögen –, diejenigen, deren Wünsche unvernünftige Launen sind, die leichthin gehegt und leichtfertig aufgegeben werden. Für einen Menschen mit hohem moralischen Anspruch, dessen Wünsche auf rationalen Werten beruhen, bedeutet ein Opfer die Preisgabe des Rechten zugunsten des Unrechten, des Guten zugunsten des Bösen.
Der Opferglaube ist eine Moral für Unmoralische – eine Moral, die ihren eigenen Bankrott erklärt, indem sie eingesteht, dass sie nicht in der Lage ist, den Menschen ein persönliches Interesse an Tugenden oder Werten zu vermitteln, dass ihre Seelen Kloaken der Verderbtheit und deshalb zu opfern seien. Sie bekennt selbst, dass sie unfähig ist, den Menschen zur Tugendhaftigkeit anzuleiten, und ihn nur durch ständige Bestrafung unterwerfen kann.
Denkt ihr in eurem Stumpfsinn, eure Moral verlange von euch nur materielle Opfer? Was sind denn eurer Meinung nach materielle Werte? Materie hat nur insofern einen Wert, als sie menschliche Wünsche befriedigt. Materie ist nichts als ein Werkzeug menschlicher Werte. In wessen Dienst sollt ihr die materiellen Werkzeuge, die ihr mittels eurer Tugend produziert habt, stellen? In den Dienst dessen, was euch als böse gilt: in den Dienst eines Prinzips, das ihr nicht teilt, einer Person, die ihr nicht achtet, um ein Ziel zu erreichen, das dem euren entgegengesetzt ist – denn sonst ist eure Gabe kein Opfer.
Eure Moral gebietet euch, der materiellen Welt zu entsagen und materiellen Dingen keinen Wert beizumessen. Ein Mensch, dessen Werte keinen materiellen Ausdruck finden, dessen Existenz keinen Bezug zu seinen Idealen aufweist und dessen Handlungen seinen Überzeugungen zuwiderlaufen, ist ein
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