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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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was er verstehe. „Selbstverständlich, Miss Taggart! Keine Frage! Die Belohnung steht Ihnen zu, Ihnen ganz allein! Der Scheck wird Ihnen zugestellt, in voller Höhe!“
    Es war leicht gewesen, weil sie sich wie in einer trübseligen, unwirklichen Welt vorgekommen war, in der ihre Worte und Taten keine Tatsachen mehr waren – keine Entsprechungen der Wirklichkeit, sondern Entstellungen wie in Zerrspiegeln, die in den Augen von Subjekten, deren Bewusstsein nicht als Bewusstsein zu behandeln ist, Deformation widerspiegeln. Ihre einzige Sorge galt seiner Sicherheit, und diese Sorge war wie eine dünne, heiß brennende Nadel in ihrem Inneren, die ihr den Kurs vorgab. Alles Übrige war ein verschwommener Eindruck von formloser Auflösung – ein Verschwinden im Nebel, Zersetzung im Säurebad.
    Aber das, dachte sie schaudernd, war der Zustand, in dem sie lebten, all jene Menschen, die sie nie verstanden hatte, das war der Zustand, den sie anstrebten, diese dehnbare Wirklichkeit, diese Pflicht zu täuschen, zu verzerren und zu betrügen, mit dem leichtgläubigen, starren Blick der vor Panik trüben Augen eines Mr. Thompson als einzigem Zweck und Lohn. Diejenigen, die einen solchen Zustand anstrebten, fragte sie sich, wollten sie wirklich leben?
    „Den höchsten Einsatz der Welt, Miss Taggart?“, fragte Mr. Thompson sie ängstlich. „Welchen Einsatz meinen Sie? Was will er?“
    „Die Wirklichkeit. Diese Erde.“
    „Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, aber … Schauen Sie, Miss Taggart, wenn Sie glauben, ihn durchschauen zu können, würden Sie … würden Sie noch einmal versuchen, mit ihm zu reden?“
    Ihr war, als hörte sie ihre eigene Stimme, viele Lichtjahre entfernt, die ausrief, dass sie ihn für ihr Leben gern sehen würde, aber in diesem Zimmer hörte sie die Stimme einer bedeutungslosen Fremden, die kalt antwortete: „Nein, Mr. Thompson, das würde ich nicht. Ich hoffe, ich muss ihm nie wieder begegnen.“
    „Ich weiß, dass Sie ihn nicht ausstehen können, und das kann ich Ihnen nicht verübeln, aber könnten Sie nicht einmal versuchen …“
    „An dem Abend, an dem ich ihn gefunden habe, habe ich versucht, vernünftig mit ihm zu reden. Ich bekam nichts als Beleidigungen zur Antwort. Ich glaube, er hegt mehr Groll gegen mich als gegen irgendjemanden sonst. Er verzeiht mir nicht, dass ich es war, die ihn geschnappt hat. Ich wäre die Letzte, der er sich ergeben würde.“
    „Ja… ja, das ist wahr … Glauben Sie, dass er sich je ergeben wird?“
    Die Nadel in ihr schwankte einen Augenblick lang und wies brennend in zwei unterschiedliche Richtungen: Sollte sie verneinen und zusehen, wie sie ihn umbrachten? – Sollte sie bejahen und zusehen, wie sie an ihrer Macht festhielten, bis sie die Erde zerstört hatten?
    „Er wird sich ergeben“, sagte sie entschieden. „Wenn Sie ihn ordentlich behandeln, wird er sich ergeben. Er ist zu ehrgeizig, um auf Macht zu verzichten. Lassen Sie ihn nicht entkommen, aber drohen Sie ihm nicht – und tun Sie ihm nichts an. Mit Angst kommen Sie nicht weiter. Er ist unempfindlich gegen Angst.“
    „Aber was ist, wenn … ich meine, so, wie die Dinge in sich zusammenbrechen … was ist, wenn er zu lange durchhält?“
    „Das wird er nicht. Dafür ist er zu praktisch veranlagt. Übrigens, gewähren Sie ihm Zugang zu irgendwelchen Nachrichten über den Zustand des Landes?“
    „Nein …“
    „Ich schlage vor, Sie geben ihm Kopien Ihrer vertraulichen Berichte. Dann wird ihm klar werden, dass es nicht mehr lange dauert.“
    „Das ist eine gute Idee! Eine sehr gute Idee! … Wissen Sie, Miss Taggart“, sagte er plötzlich, und es klang, als klammerte er sich verzweifelt an sie: „Es geht mir immer besser, wenn ich mit Ihnen spreche. Das liegt daran, dass ich Ihnen vertraue. Ich traue niemandem in meiner Umgebung. Aber Sie … Sie sind anders. Sie sind zuverlässig.“
    Sie schaute ihm unerschrocken geradewegs ins Gesicht. „Danke, Mr. Thompson“, sagte sie.
    Es war leicht, dachte sie – bis sie auf die Straße hinausging und bemerkte, dass die Bluse unter ihrem Mantel klamm an ihren Schulterblättern klebte.
    Wäre sie in der Lage, etwas zu fühlen, dachte sie, als sie durch die Halle des Terminals lief, dann wüsste sie, dass die drückende Gleichgültigkeit, die sie jetzt ihrer Eisenbahn gegenüber empfand, Hass war. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie nichts als Frachtzüge betrieb: Für sie waren die Passagiere keine Lebewesen, keine Menschen. Es

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