Der Streik
erschien ihr unsinnig, so viel Mühe aufzuwenden, um Katastrophen zu verhindern und die Sicherheit von Zügen zu gewährleisten, die nichts als leblose Körper transportierten. Sie blickte in die Gesichter im Terminal und dachte: Sollte er sterben, ermordet von den Führern des Systems dieser Menschen, damit sie weiterhin essen, schlafen und reisen konnten, würde sie arbeiten, um ihnen Züge zur Verfügung zu stellen? Wenn sie diese Menschen um Hilfe anflehte, würde auch nur einer von ihnen sich für ihn einsetzen? Wollten sie, die ihn gehört hatten, dass er lebte?
Der Scheck über fünfhunderttausend Dollar wurde noch am selben Nachmittag in ihrem Büro abgegeben, zusammen mit einem Strauß Blumen von Mr. Thompson. Sie schaute den Scheck an und ließ ihn auf ihren Schreibtisch flattern: Er bedeutete nichts und ließ sie kalt. Sie empfand nicht einmal einen Anflug von Schuld. Er war ein Fetzen Papier, nicht wichtiger als diejenigen in ihrem Papierkorb. Ob sie damit ein Diamantkollier, die städtische Müllkippe oder ihre letzte Mahlzeit kaufen konnte, spielte keine Rolle. Das Geld würde nie ausgegeben werden. Der Scheck stellte keinen Wert dar, und nichts, was man damit kaufen konnte, konnte wertvoll sein. Und doch lebten die Menschen um sie herum ständig in diesem Gefühl lustloser Gleichgültigkeit, dachte sie, ohne Ziel und ohne Leidenschaft. Das war der Zustand einer Seele, die nichts wertschätzte; diejenigen, die sich ihm freiwillig hingaben, fragte sie sich, wollten sie leben?
Die Lampen im Hausflur waren defekt, als sie an diesem Abend taub vor Erschöpfung nach Hause kam, und sie bemerkte den Briefumschlag zu ihren Füßen erst, als sie das Licht in ihrer Diele anknipste. Es war ein versiegelter Umschlag ohne Aufschrift, der unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden war. Sie hob ihn auf – und im nächsten Augenblick lachte sie lautlos, halb kniend, halb auf dem Boden hockend, und hätte sich am liebsten nicht mehr vom Fleck gerührt und immerzu nur diese Notiz angestarrt, die in einer ihr vertrauten Handschrift geschrieben worden war: der Handschrift, die ihre letzte Botschaft auf den Kalender über der Stadt geschrieben hatte. Die Notiz lautete:
Dagny:
Halte durch. Behalte sie im Auge. Sobald er unsere Hilfe braucht, ruf mich an unter OR 6-5693.
F.
Am nächsten Morgen ermahnten die Zeitungen die Öffentlichkeit, den Gerüchten über Unruhen in den Südstaaten keinen Glauben zu schenken. Die vertraulichen Berichte an Mr. Thompson meldeten hingegen den Ausbruch bewaffneter Kämpfe zwischen Georgia und Alabama um die Besitzrechte an einer Fabrik zur Herstellung elektrischer Geräte, einer Fabrik, die durch die Kämpfe und gesprengte Gleise von jeglicher Rohstoffzufuhr abgeschnitten war.
„Haben Sie die vertraulichen Berichte gelesen, die ich Ihnen geschickt habe?“, stöhnte Mr. Thompson an diesem Abend, als er Galt erneut gegenübersaß. Er befand sich in Begleitung von James Taggart, der sich freiwillig gemeldet hatte, um dem Gefangenen zum ersten Mal gegenüberzutreten.
Galt saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne und rauchte eine Zigarette. Er wirkte aufrecht und zugleich entspannt. Sie konnten seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, außer dass keine Spur von Besorgnis darin lag.
„Das habe ich“, antwortete er.
„Uns bleibt nicht viel Zeit“, sagte Mr. Thompson.
„Das ist richtig.“
„Werden Sie den Dingen weiter ihren Lauf lassen?“
„Und Sie ?“
„Wie können Sie sich so sicher sein, dass Sie im Recht sind?“, rief James Taggart. Seine Stimme war nicht laut, aber so eindringlich wie ein Schrei. „Wie können Sie es verantworten, in einer so schrecklichen Zeit an Ihren Ideen festzuhalten, auf die Gefahr hin, die ganze Welt zu zerstören?“
„Wessen Ideen zu folgen hielten Sie für sicherer?“
„Wie können Sie sicher sein, dass Sie im Recht sind? Woher wollen Sie das wissen ? Niemand kann sich seines Wissens sicher sein! Niemand! Sie sind kein bisschen besser als jeder andere!“
„Was wollen Sie dann von mir?“
„Wie können Sie mit dem Leben anderer spielen? Wie können Sie sich einen solch selbstsüchtigen Luxus wie Beharrlichkeit erlauben, wenn die Menschen Sie brauchen?“
„Sie meinen: wenn sie meine Ideen brauchen?“
„Niemand ist gänzlich im Recht oder Unrecht! Es gibt kein Schwarz oder Weiß! Sie haben die Wahrheit nicht für sich gepachtet!“
Irgendetwas stimmte nicht mit der Art, wie Taggart sich
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