Der stumme Ruf der Nacht
welches Zimmer er hatte?«
Sie kaute auf ihrer Lippe und blickte wieder auf seinen Dienstausweis, der noch immer auf der Rezeptionstheke lag. »Vierhundertsechsundzwanzig.«
Will nickte.
»Und wissen Sie, ober sein Auto selbst geparkt hat, oder hat das jemand für ihn getan?«
»Eigentlich hat das immer jemand für ihn erledigt«, antwortete sie ohne nachzusehen.
Alvin war also Stammkunde gewesen. Der für die Autos zuständige Portier kannte ihn bestimmt, vor allem wenn er zu viel oder zu wenig Trinkgeld gab.
»Erinnern Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Abend?«
»Etwas Ungewöhnliches?«
»Vielleicht eine Beschwerde wegen Lärm? Jemand, der seine Rechnung nicht bezahlt hat? Irgend so was.«
Ihre Nägel klapperten wieder auf der Tastatur. »Da fällt mir eigentlich nichts ein. Jedenfalls steht nichts davon im Protokoll.«
Will blickte sich in der Lobby um. Angrenzend an den Fahrstuhlbereich bemerkte er eine Bar mit gedimmten Licht: LARIAT LOUNGE. Neben dem Eingang stand ein Aufsteller. Will konnte nicht entziffern, was darauf stand, aber er vermutete, dort wurde ein Sänger oder vielleicht ein Pianist angekündigt.
»Es gab noch einen Gast, der vorzeitig abgereist ist.«
Mit einem Schlag richtete er seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Rezeptionistin. »Wie bitte?«
»Noch eine vorzeitige Abreise. Sie hatten doch nach etwas Ungewöhnlichem gefragt, und das ist bei uns ungewöhnlich. Der Gast checkte um etwa halb elf aus. Kurz nach Mr. Alvin.«
»Welches Zimmer hatte dieser Gast denn?«
»Vierhunderteinundvierzig.«
»Und unter welchem Namen lief diese Reservierung?«
Will hielt den Atem an und hoffte, dass sie mitmachte. Natürlich könnte er dafür auch eine richterliche Anordnung
erwirken, aber es wäre wesentlich einfacher, wenn sie es ihm freiwillig sagte.
»Beatrice Morris.«
Beatrice Morris. Wills Puls ging schneller. »Sind Sie sicher, dass es Morris war und nicht Moore?« Er musste sich beinahe zurückhalten, nicht über die Rezeption zu hüpfen und selbst nachzusehen.
»Da steht eindeutig Morris.«
Dennoch, Beatrice war kein ganz alltäglicher Name. Und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass man in ein und derselben Ermittlung einer Beatrice Morris und einer Beatrice Moore begegnete? Ziemlich gering.
Die junge Frau warf einen unruhigen Blick über die Schulter. »Wenn Sie noch mehr wissen möchten, muss ich aber wirklich meinen Vorgesetzten holen.«
»Bitte, tun Sie das«, sagte Will. »Ich habe ganz bestimmt noch mehr Fragen.«
Ein weiteres glühend heißes Wochenende ging zu Ende, als Courtney aus dem Bus stieg. Sie bewegte sich wie eine Frau, die schon mit High Heels geboren worden war. Will beobachtete sie von einem Stehtisch aus einem Donut-Shop. Ihre Schuhe gefielen ihm. Ihm gefielen alle ihre Schuhe, aber diese waren besonders scharf. Sie hatten extrem dünne Absätze und schmale schwarze Riemchen, die ihre Fesseln umschlossen. Will genoss noch kurz den Anblick ihrer Beine, ehe er den Kaffeebecher in den Abfall warf und aus dem Laden trat.
Er folgte ihr zwei- oder dreihundert Meter und dachte, dass sie gleich links in den Oak Trail einbiegen
würde. Doch sie ging weiter geradeaus. Sie überquerte eine Straße bei Rot, passierte eine dunkle Einfahrt und betrat einen kleinen Supermarkt – durch den Ausgang.
Will schlich ihr hinterher.
Eigentlich hatte er sie sofort ansprechen wollen. Doch nun änderte er den Plan. Anhand des Einkaufsverhaltens ließ sich viel über einen Menschen erfahren. Kaufte er für sich oder für den Arbeitgeber ein? Wie viel Alkohol trank er? Kaufte er verschreibungspflichtige Medikamente oder nur einfache Arzneimittel? Bezahlte er bar oder per Kreditkarte?
Sie nahm einen roten Einkaufskorb, der neben einer Auslage mit Früchten auf dem Boden stand, und legte ein paar Bananen hinein. Daraufhin schlenderte sie im Zickzack durch die Obst- und Gemüseabteilung, ohne den Jugendlichen zu bemerken, der mit dem Regalbefüllen aufhörte und stattdessen ihre Figur bewunderte. Nachdem sie ein paar Sachen aus dem Kühlregal in den Korb gepackt hatte, steuerte sie die Backwaren an.
Will ging hinter ihr durch den Laden und wunderte sich mit jedem Schritt mehr. Er machte keinerlei Anstalten, sich zu verstecken, ja, er hielt nicht einmal viel Abstand, aber sie schien nicht zu bemerken, dass sie verfolgt wurde. Im Gang mit den Toilettenartikeln brauchte sie eine Ewigkeit, um sich für eine Gesichtsseife zu entscheiden, bevor sie zur
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