Der stumme Ruf der Nacht
sie zu umarmen, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Sie sah ihn an.
»Lass uns gehen«, sagte er und drehte sich um.
Auf dem Weg zurück zum Van lauschte er auf ihre Schritte hinter sich. Er hielt ihr die Tür auf.
»Was sollen wir jetzt machen?«
»Wir machen gar nichts.« Er drängte sie zum Einsteigen. »Du fährst zu deiner Schwester, und ich kümmere mich um diese neue Spur.«
Nach der zweiten Nacht auf Fionas Couch hatte Courtney das Gefühl, einen Chiropraktiker zu brauchen. Sie würde sich aber maximal eine Massage im Bella Donna
leisten können und war entschlossen, die Masseurin heute in einer Pause um eine Nackenmassage zu bitten. Ihre Schulter knetend ging sie in die Küche. Dort saß Jack beim Frühstück.
»Hi.«
Er sah von der Zeitung auf. Mit seinem weißen Hemd und der schlichten schwarzen Hose wirkte er fast zu altmodisch für ihre künstlerische Schwester. Andererseits zogen Gegensätze sich an; Fiona und Jack waren ein Beweis dafür.
»Hier gibt’s starken Kaffee«, sagte er, und Courtney wurde klar, dass sie fürchterlich aussehen musste. Heute war wohl eine Sonderschicht vor dem Spiegel notwendig.
Sie nahm sich eine Tasse aus dem Schrank und goss Kaffee ein. »Ist Fiona schon weg?«
»Seit sechs Uhr«, antwortete er. »Wegen eines Überfalls in einem Lebensmittelladen.«
»Haben die denn keine Überwachungskameras?«
Jack stand auf und schenkte sich Kaffee nach. Courtney gab etwas Milch in ihren. »Dort funktionierte sie offenbar nicht.«
Courtney setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete ihren zukünftigen Schwager. Sie hatte keinen Bruder. Und eigentlich auch keinen Vater. Für sie war der einzige Mann in der Familie ihr Großvater. Sie fragte sich, wie es sich in einer normalen Familie lebte.
»Fiona macht sich Sorgen«, sagte er, beide Hände um die Kaffeetasse gelegt.
»Ich weiß.«
»Und ich auch.«
Sie seufzte.
»Wie wär’s, wenn du ein paar Tage freinimmst? Du könntest nach Kalifornien fahren und ein paar Freunde besuchen. Oder ans Meer. Nach Padre Island sind es nur fünf Stunden.«
»Das ist eine nette Idee, aber ich kann’s mir momentan nicht leisten, in Urlaub zu fahren. Ich muss arbeiten.«
»Fiona und ich leihen dir doch gern das Geld.«
Courtney schluckte. Jack und Fiona hatten eigentlich kein Geld übrig. Ihre gesamten Ersparnisse hatten sie für das Haus und die bevorstehende Hochzeit ausgegeben.
»Vielen Dank, das ist total nett«, stammelte sie. »Aber das kann ich nicht annehmen. Und ich darf auch nicht. Ich darf die Stadt nicht verlassen. Wegen der Polizei.«
»Ich habe mich ein bisschen umgehört.«
»Ich auch.«
Er sah sie streng an. »Die Sache ist ziemlich kompliziert. Da kommt ziemlich was zusammen, nach allem was passiert ist. Das heißt, dass auch viel auf dem Spiel steht. Bei dir wurde eingebrochen. Man hat im Park und vielleicht auch im Hotel Zeugen platziert, um dir die Sache in die Schuhe zu schieben. Jemand hat einen Doppelmord versucht. Dazu wurde er von einer anderen Person an den Tatort gefahren. Und jetzt ist auch noch dieser Professor verschwunden. Nathan meint, dass das was mit deinem Fall zu tun hat. Dir ist doch klar, was ich meine?«
»Ja, ich stecke bis zum Hals in einer scheußlichen
Sache, danke. Aber das wusste ich schon.« Courtney schnaubte. Sie hatte keine Lust mehr, ihm von Eve Caldwell zu erzählen.
»Anfangs haben wir nur befürchtet, dass du angeklagt wirst. Aber jetzt haben wir Angst, dass dir was zustößt.«
»Ich auch.«
Jack sah sie an. Aus seinen graublauen Augen sprach echte Sorge. Wie ein Bruder. Courtney bekam ein flaues Gefühl, als ihr bewusst wurde, dass das ganz neu für sie war. Bisher hatte sie Männer entweder als Liebhaber oder Feinde betrachtet, aber nicht als Freunde oder Familienmitglieder.
»Ich weiß, dass du glaubst, Fiona macht sich zu viele Gedanken um dich, aber das tut sie nur, weil sie dich liebt.«
»Das weiß ich doch.« Courtney erhob sich nun und klopfte Jack auf die Schulter. »Und ich passe auf mich auf. Versprochen.«
Plötzlich ertönte die Stimme von Gwen Stefani auf der Küchentheke. Courtney war für diese Unterbrechung dankbar. Sie ging hinüber und griff nach ihrem Handy. Will.
»Hallo?«
»Wann musst du in der Arbeit sein?«
Sie sah auf die Küchenuhr über der Mikrowelle. »In etwa einer Stunde. Warum?«
»Ich hol dich ab.«
Vor zwei Wochen war sie noch eine Single-Frau gewesen, und nun hatte sie gleich zwei Alphamännchen als Beschützer. »Das
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