Der stumme Ruf der Nacht
gebracht.
»Das war alles?«, erkundigte sich Wilkers misstrauisch.
»Jepp.« Hodges ging zur Tür und hielt sie auf. Als Erster verließ Nathan den Raum und ging ein paar Schritte den Gang entlang, bis er an eine offene Tür kam. Im Büro saß eine junge Frau am Schreibtisch und tippte an ihrem Computer. Es war die blonde Anwältin, auf die Nathan Will bei der Beerdigung aufmerksam gemacht hatte, Lindsey Kahn.
»Ach, nur eins noch, Mr. Wilkers. Sie halten doch Anteile an einer Ölfirma?«
»Was? Nein.«
»Wirklich? Na, Ölfirma trifft es vielleicht nicht ganz, aber es ist doch eine Gesellschaft, die in Osttexas Schürfrechte hält? TW Enterprises?«
Während er auf die Antwort wartete, behielt Nathan die Frau Auge, statt sich zu Wilkers umzudrehen.
»Ach so. Ja, ich halte einen Anteil daran, falls Sie das interessiert.«
»Und besitzt die vielleicht einen Cadillac? Einen schwarzen Escalade?«
Die Anwältin war wie elektrisiert. Ihre Finger erstarrten über der Tastatur, und Nathan erkannte, dass der Nagellack exakt zu ihrem roten Kostüm passte. Vor allem aber spürte er die Spannung, die von der Frau ausging.
»TW Enterprises besitzt eine ganze Menge Dinge an ganz unterschiedlichen Orten. Da müsste ich mich informieren.«
»Das wäre ganz großartig, vielen Dank! Bist du fertig?«
Nathan drehte sich um und sah, wie sein Partner auf den Ausgang zusteuerte. Er lächelte den Anwälten zu. Vielen Dank für Ihre Zeit, meine Herren. Wir finden schon raus.«
Will hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Jim Wilkers hatte etwas zu verbergen, und damit hatte er den Spitzenplatz auf Wills Liste der Verdächtigen erobert. Mit dem Gefühl, in seinem Fall endlich weitergekommen zu sein, verzichtete er auf den Aufzug und lief, immer zwei Stufen nehmend, die Treppe zu seiner Abteilung hinauf.
»Hodges!«
Er blieb vor Cernaks Büro stehen.
Sein Boss stand hinter dem Schreibtisch und legte
gerade das Telefon auf. »Ich habe Sie gesucht.« Mit diesen Worten ließ er sich auf den Stuhl fallen. »Schließen Sie die Tür.«
Will trat ein und machte die Tür zu. Der Lieutenant sah nie sehr glücklich aus, aber heute Morgen machte er ein besonders grimmiges Gesicht. Wills Blick fiel auf die Zeitung auf dem Tisch. Die Titelgeschichte über einen weiteren Mord gestern Abend war aufgeschlagen.
»Setzen Sie sich.« Cernak zog unter der Zeitung eine Akte hervor. »Sehen Sie sich das an.«
Will nahm die Akte, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Hosentasche. Courtneys Nummer. Mist. Er drückte den Anruf weg, schaltete ab und steckte das Handy wieder in die Tasche.
Die Akte enthielt zahlreiche Polizeiunterlagen aus Los Angeles. Schon bei ihrem Anblick wurde Will übel.
»Das Mädchen ist bereits aktenkundig«, konstatierte Cernak. »Trunkenheit am Steuer, Drogenbesitz, Erregung öffentlichen Ärgernisses. Eine Jugendstrafe hat sie anscheinend auch mal bekommen, aber die Akte ist geschlossen.«
Will legte die Akte zurück auf den Tisch. Obenohne-Baden und Haschrauchen an einem öffentlichen Strand machten niemand zum Mörder. Aber er wollte Courtney nicht blind in Schutz nehmen.
»Sie verbringen viel Zeit mit Ihrer Hauptverdächtigen«, stellte Cernak fest.
»Sie haben gesagt, dass ich mich um sie kümmern soll.«
»Und kommen Sie dadurch mit den Ermittlungen weiter? Oder lenkt Sie das ab? Ich würde das gerne
wissen, weil ich nämlich nur noch so weit davon entfernt bin, sie zu verhaften.« Er hielt Daumen und Zeigefinger nur einen knappen Zentimeter voneinander entfernt in die Höhe. »Auf den Ärger mit dem Staatsanwalt kann ich verzichten, wenn sich herausstellt, dass sie mit einem meiner Leute schläft.«
»Wenn das so ist, Sir, sollten Sie mich abziehen.« Will sprach die Worte wie mit belegter Zunge.
»Sie schlafen mit ihr?« Nun wirkte Cernak überrascht, und Will merkte, dass sein Gegenüber nicht so viel wusste, wie er angenommen hatte.
Aber das war egal. Im Grunde hatte Cernak recht. Was Courtney betraf, war Will nicht mehr neutral.
»Nein.« Will räusperte sich. »Aber man kann von einem Interessenskonflikt sprechen, Sir.«
Cernak lehnte sich zurück und beäugte ihn skeptisch. »Okay, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.« Er nickte in Richtung Tür. »Ich ziehe Sie von dem Fall ab. Sie können gehen.«
Gehen? Wurde er etwa entlassen? Wie betäubt erhob sich Will von seinem Stuhl. Plötzlich merkte er, wie sehr er diesen Job wollte. Er hatte sich jahrelang darum bemüht, ins Morddezernat
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