Der stumme Ruf der Nacht
Sie spürte es.
»Will … geht’s dir gut?«
Auch er blickte sie nur kurz an. »Alles okay.«
Aber das stimmte nicht.
Sie wollte ihn einladen. Nein, noch lieber wollte sie, dass er sie zum Abendessen einlud, um über alles zu reden. Aber er war offensichtlich so angespannt, dass es am besten war, wenn er allein blieb.
Auch gut. Sie hatte sich diesem Mann schon zweimal angeboten. Ein drittes Mal würde sie es bestimmt nicht tun.
Sie griff nach den Einkaufstüten auf dem Rücksitz. Als sie die Tür öffnete, fasste er sie am Arm.
Sie sahen sich an. Er sagte nichts, aber sein Blick war voller Gefühl.
»Was ist?«, fragte sie.
»Pass auf dich auf.«
»Mach ich.«
Und dann ließ er sie los.
Den ganzen Dienstagvormittag hatte Courtney schlechte Laune. Das lag zum Teil daran, dass sie wieder schlecht geschlafen hatte. Vor allem aber lag es an Will. Trotz ihrer Proteste hatte er sie wieder zur Arbeit gebracht. Die ganze Fahrt war ein Krampf, doch noch angespannter war die Verabschiedung gewesen. Courtney hatte kein Wort gesagt, und als sie aus dem Wagen stieg, hatte Will ihr nur kurz zugenickt und sie mit einem »Pass auf« verabschiedet.
Sie versuchte, sich mit Arbeit abzulenken. Ihr Halb-Elf-Uhr-Termin hatte lange dichte Locken, an denen sie viel schneiden und anschließend zwanzig Minuten herumfönen musste. Und zum Glück redete sie nicht viel. Courtney war heute nicht in der Stimmung für eine psychotherapeutische Sitzung.
Während sie ihren Arbeitsplatz für den nächsten Termin saubermachte, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Baseball-Spiel. Sie musste immer wieder an ihr Gespräch denken.
Hatte David ihr etwas mitgeteilt, das alles erklären konnte? Sie hatte sich das Gehirn zermartert, um sich an eine Andeutung auf ein zweifelhaftes Geschäft zu erinnern, an dem er beteiligt gewesen war. Aber eigentlich hatte er kaum über die Arbeit gesprochen. Er hatte ihr ein wenig von seiner aktuellen Gerichtsverhandlung erzählt, aber das war nur so nebenbei gewesen. Irgendeine Klage wegen Schlankheitspillen. Courtney fiel das wieder ein, weil er sie gefragt hatte, ob sie die Pillen jemals genommen hatte. Als sie verneint hatte, schien er fast ein bisschen enttäuscht.
Warum nur hatte sie trotz aller Anzeichen nicht kapiert, dass er ein gefühlloses Schwein war?
»Dein nächster Termin hat gerade angerufen und abgesagt. Sie ist erkältet.«
Courtney sah Jasmin an. »Möchte sie einen neuen?«
»Sie sagt, sie ruft morgen noch mal an.«
Courtney seufzte. Die Frau gab immer großzügig Trinkgeld, und diesmal hatte sie sich eigentlich komplett neue Strähnen machen lassen wollen. Aber immerhin hatte sie abgesagt. Courtney hasste es, wenn
Leute kamen und sich die Lunge aus dem Leib husteten und ihre Viren in der Gegend verteilten.
»Ich mache Mittagspause«, verkündete sie knapp. Sie nahm ihre Handtasche und marschierte an Jasmin vorbei. »Zu meinem Termin um dreizehn Uhr fünfzehn bin ich wieder da.«
Draußen war es wieder sengend heiß, aber Courtney genoss die Sonne auf ihrem Gesicht, als sie aus dem Bella Donna trat. In letzter Zeit war sie viel zu oft in geschlossenen Räumen eingesperrt gewesen. Sie musste einfach ab und zu hinaus. Nachdem sie ein paar Minuten an der Ecke gewartet hatte, stieg sie in den Bus zum Campus der University of Texas. Dort, in der Guadalupe Street, war ihr liebstes Internet-Café. Und nun wollte sie im Netz ein paar Dinge recherchieren.
Nach zwei Chai Latte hatte sie genug von alten Zeitungsartikeln und juristischen Aufsätzen. Wie langweilig dieser Jurakram war. Sie verstand nicht, wie man das aushalten konnte.
Na ja, vermutlich wurde das als Schmerzensgeld mit in die Anwaltsgebühren eingerechnet. In Davids letztem großem Prozess hatten sie sich auf zwanzig Millionen belaufen. Selbst nachdem David das Geld mit seiner Kanzlei und der ebenfalls am Prozess beteiligten Anwältin geteilt hatte, waren ihm mehr als fünf Millionen geblieben. Das jedenfalls schrieb der Central Texas Bar Bulletin .
Courtney taten schon die Augen weh, so dass sie auf das Lesen weiterer Texte verzichtete und stattdessen ein paar Videolinks anklickte. Sie gab ein paar Suchbegriffe ein und entschied sich für den Dreißig-Sekunden-Clip
eines lokalen ABC-Senders. Darin war David zu sehen, wie er in seinem marineblauen Lieblingsanzug auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude posierte und sich von Reportern Mikrofone vor die Nase halten ließ.
»Die Geschworenen haben eine klare Botschaft
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