Der stumme Ruf der Nacht
»Habe ich dich geweckt?«
»Leider nicht.«
In der Leitung blieb es still, während er versuchte, diese Antwort zu verarbeiten. Sie schlug die Bettdecke zurück und ging auf die Zimmerseite, die am weitesten vom Schlafzimmer entfernt war.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Ich bin auf dem Weg vom Revier zu mir nach Hause.«
Nach dem Baseball-Spiel war er also wieder in die Arbeit gefahren. Was er da wohl gemacht hatte? Etwa ein Protokoll von ihrem Gespräch verfasst? Oder sogar den Tonbandmitschnitt für die Beweisaufnahme ausgewertet? Wieder brandete Ärger in ihr hoch.
»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte er. »Wegen
vorhin. Ich habe dich nicht nur eingeladen, um dich auszufragen -«
»Das hast du schon.«
Schweigen. »Ja, gut, das stimmt. Aber es tut mir leid, und ich möchte mich dafür entschuldigen.«
Sie biss sich auf die Lippe. Wenn sie etwas an diesem Mann schwach werden ließ, dann seine Aufrichtigkeit.
Vor dem Fenster erklang ein vertrautes Geräusch. Sie ging an die Scheibe. »Wo bist du?«
»Auf dem Heimweg.«
»Ja, aber wo genau?«
Wieder verstrichen einige Sekunden. »Ja, eigentlich bin ich gerade bei dir vorbeigefahren. Das heißt, an Fionas Haus. Ich wollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist -«
»Komm zurück.«
In dem Bewusstsein, einen Fehler zu begehen, stellte Will den Wagen ab. Aber das war ihm nun herzlich egal. Das Verandalicht erlosch, die Tür ging auf, und Courtney kam leise heraus.
Er stieg aus dem Auto und schloss die Tür so leise wie möglich. Sie kam ihm schon entgegen. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er sah, dass sie ein seidig schimmerndes schwarzes Nachthemd trug, das nur bis über die Knie reichte.
»Hi«, flüsterte sie.
»Hi.«
Sie hielt ein Sixpack Bier in die Höhe, nahm seine Hand und führte ihn zurück zum Haus. Dort setzten sie sich auf die unterste Stufe der Veranda. Zum zweiten
Mal an diesem Abend fühlte er sich wie ein Schuljunge. Nur war es diesmal, als hätte er sich heimlich aus dem Haus geschlichen, um seine Freundin zu treffen, und sie hätten zusammen das Bier ihres Vaters geklaut.
Sie reichte ihm eine eiskalte Flasche. Er öffnete sie, gab sie ihr zurück und nahm sich selbst eine.
»Ich hoffe, du magst Corona«, sagte sie. »Ohne Limette.«
»Das ist absolut perfekt.«
Leise klirrend stießen die Flaschen aneinander. »Auf einen beschissenen Geburtstag.« Sie setzte die Flasche an die Lippen, und Will beobachtete, wie sie beim Trinken den Kopf in den Nacken legte. Dabei blies der Wind ihr ein paar Strähnen von den Schultern.
»Es tut mir leid wegen vorhin.«
»Das hast du schon gesagt. Vergessen wir’s.« Sie nahm seine freie Hand. »Was führt Sie so spät hierher, Detective Hodges?«
Er ließ seinen Blick die Straße auf und ab wandern. Alles schien ruhig. Fiona und Jack wohnten in einem wohlanständigen Viertel, in dem die Einwohner regelmäßig den Rasen mähten und nachts schliefen.
»Ich wollte nur mal nachschauen.«
Sie sah ihn an. Er fragte sich, was sie gerade dachte. Was sie über ihn dachte.
Bei Gott, er war wirklich ein Idiot. Er trank einen Schluck Bier und blickte zur Straße
Sie stupste mit dem Knie gegen seines.
Er stupste zurück.
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Begehren erfasste
ihn mit solcher Wucht, dass es ihm fast den Atem raubte.
Wieder nippte er an seinem Bier. Was sollte er bloß sagen?
»Wie war eigentlich die Hochzeitskleiderprobe? Ich hab gar nicht mehr gefragt.«
»Prima«, sagte sie. »Besser als ich gedacht hätte. Das Kleid passt ihr perfekt.«
»Gehst du zur Hochzeit?«
»Ich bin Brautjungfer. Aber zum Glück ohne Chiffonkleid.«
Ihr Haar roch schon wieder so gut. Er wandte sich ab.
»Courtney …«
»Hm?«
»Es tut mir leid, dass der Zeitpunkt so ungünstig ist. Wenn die Dinge anders stünden -«
»Hör auf, dich zu entschuldigen. Gegen Schuldgefühle bin ich allergisch.«
»Ich hab dich gern.«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«
»Ich weiß, dass du unschuldig bist.«
Sie löste die Hand aus seiner und stellte ihr Bier auf die Stufen. In der Dunkelheit sah er ihr Gesicht nicht, aber er spürte, wie sich alles an ihr verkrampfte. Sie war verärgert. Na prima.
Und er konnte es ihr nicht einmal übel nehmen.
Er hätte nicht herkommen sollen und so mit ihr reden. Der ganze Abend war ein Reinfall gewesen. Natürlich hatte er den Auftrag gehabt, etwas aus ihr herauszubekommen. Aber es war nie davon die Rede,
das auf einer
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