Der stumme Ruf der Nacht
Devereaux nahm das Fax, während Will seinen E-Mail-Account öffnete. Obwohl er es nicht glaubte, hoffte er, dass Courtney ihm eine Nachricht geschickt hatte.
»Anfangs sah alles nach einem Brand in der Küche aus, aber dann fand die Spurensicherung heraus, dass es Brandstiftung war. Und als sie bei der Autopsie ein paar Metallteile aus dem Schädel des Opfers entfernten, wurde wegen Mordes ermittelt.«
Wills Postfach war voll, doch keine Nachricht von Courtney. Er loggte sich aus, ehe Webb ihm neugierig über die Schulter sah. »Was haben wir damit zu tun?«
Webb lächelte. »Einer vom Morddezernat in L. A. hat von unserer Personenüberprüfung erfahren und mir einen Tipp gegeben.«
»Was für einen Tipp denn?« Will sah, wie Webbs Lächeln noch breiter wurde, und ihm wurde übel.
»Dass unsere Tussi dabei die Finger im Spiel hatte. Sie konnten ihr nichts nachweisen, aber die Kollegen dort sind überzeugt, dass sie den Typ umgelegt hat.«
Courtney betrachtete sich in dem verschmierten Toilettenspiegel. Ihr nächster Bus ging in fünfundzwanzig Minuten. Das, was nun zu tun war, ließ sich nicht länger hinauszögern.
Eine seltsame Ruhe überkam sie, als sie ihr Ebenbild kritisch musterte.
Sie war keine wirkliche Schönheit. Um die Nase herum hatte sie leichte Sommersprossen, und das Kinn war etwas zu spitz für ihr Gesicht. Allerdings hatte sie schöne Lippen. Und eine gesunde, ebenmäßige Haut. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und ließ es locker über die Schultern fallen. Will hatte es gemocht. Er hatte zwar nichts gesagt, aber sie wusste es. Gestern Nacht hatte er damit gespielt wie ein Kind, das endlich das Spielzeug bekommen hatte, das er sich schon immer gewünscht hatte. Dreimal hatten sie Sex gehabt, und danach hatte er jedes Mal dagelegen und ihre Haare gestreichelt, bis sie vor Behagen beinahe geschnurrt hätte.
Sie verdrängte den Gedanken und nahm eine ihrer dunkelroten Locken zwischen zwei Finger. Sie hatte sich noch nie blond gefärbt. Es war die einzige Farbe, die sie bis heute nicht ausprobiert hatte. Hauptsächlich wegen des Klischees, aber auch weil sie, damit die Farbe echt wirkte, zusätzlich die Brauen färben musste. Und das war ihr auf die Dauer nicht angenehm. Aber mit ihren kastanienbraunen Augen und ihrem hellen Teint würde es funktionieren.
Die Tür ging auf, und Courtney fuhr überrascht auf. Es war nur eine Frau mit zwei Mädchen. Courtney atmete durch und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Den ganzen Tag lagen ihre Nerven blank.
Sie sah im Spiegel, wie die Mutter die Sauberkeit der Kabinen kontrollierte und jedes Mädchen in eine schickte. Die Kinder schienen zwischen vier und sieben Jahre alt, die Mutter kaum älter als Courtney.
»Nicht das Schüsselchen anfassen«, ermahnte sie. »Die Toilette spült von ganz allein.«
Courtney wartete, bis die Mädchen fertig waren und brav zum Waschbecken gingen, um sich die Hände zu waschen. Die Mutter stand daneben und reichte ihnen Seife und Papierhandtücher. Danach zog sie ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte der Kleineren einen roten klebrigen Fleck aus dem Gesicht.
»Jetzt ist aber Schluss mit den Süßigkeiten.« Sie zog ihr die Schleifen im Haar zurecht. »Sonst ist dir schlecht, wenn wir bei der Oma sind.«
Mit einem Anflug von Wehmut blickte Courtney ihnen nach, als sie die Toilette verließen. Sie stellte sich vor, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie so eine Mutter gehabt hätte. Wie ihr und Fionas Leben dann wohl verlaufen wären?
Wäre Fiona dann freischaffende Malerin, statt sich als Polizeizeichnerin mit Bildern von Vergewaltigern und Mördern den Lebensunterhalt zu verdienen? Und wäre sie für Courtney eine Freundin und nicht diese Ersatzmutter, die sie ihr ganzes Leben war? Wäre sie vielleicht schon verheiratet und hätte selber Kinder?
Courtney auch?
Bei dem Gedanken hätte sie beinahe laut losgelacht. Und doch versetzte er ihr innerlich auch einen Stich, denn insgeheim wusste sie, dass sie den Wunsch nach Kindern nie ganz aufgegeben hatte. Sie hatte eine
schlimme Kindheit gehabt – na und? Da gab es auch viele andere. Das war kein Grund, nicht selbst eine Familie zu gründen. Sie konnte eines Tages auch glücklich werden.
Nur heute vielleicht noch nicht.
Wieder ging die Tür auf, und diesmal kamen drei Frauen herein. Courtney zog sich in eine Kabine zurück und öffnete ihre Reisetasche. Sie nahm ihre Kosmetiktasche heraus und hängte sie an den Kleiderhaken an der Tür. Danach
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