Der stumme Ruf der Nacht
holte sie ihren Klappspiegel hervor. Mit etwas Mineralwasser feuchtete sie sich das Haar an und kämmte es mit einem breiten Kamm kurz durch. Schließlich packte sie mit geübter Bewegung eine dicke Haarsträhne, zog eine Haarspange aus der Hosentasche und steckte sie fest. Als es in der Toilette wieder still geworden war, nahm sie ihre Schere.
Eine Locke nach der anderen fiel auf den Boden, als sie die Grundregel aller Friseure brach. Ssschnipp, ssschnipp, sschnipp. Ihr wunderbares Haar regnete herab. Ssschnipp, sschnipp. Bald waren die Fliesen von einem dunkelroten Teppich bedeckt. Ssschnipp, sschnipp. Und mit jedem Schnippen dachte sie an Wills Hände.
Auf dem Heimweg von der Arbeit hatte Will das Bedürfnis, noch einmal an Courtneys Haus vorbeizufahren. Er war heute bereits zweimal dort gewesen, ohne dass ihm geöffnet wurde. Einzig der Nachbarshund hatte gebellt wie verrückt.
Er stellte den Taurus hinter Amy Harris’ Wagen in die Einfahrt. Kurz fragte er sich, ob Amys gewalttätiger Freund nach seinem Ausflug zur Polizei wohl schon
wieder aufgetaucht war. Amys Junge, Devon, fiel ihm wieder ein, und er erinnerte sich an den schrecklichen Anblick des kleinen, noch nicht identifizierten Körpers heute Abend in der Leichenhalle. Will wusste, dass er seit diesem Fall häusliche Gewalt nie mehr auf die leichte Schulter nehmen würde.
Er schritt zur Tür und klingelte. Aus der Haushälfte der Harris lärmte ein Fernseher, doch bei Courtney war es still. Will versuchte, durch das Verandafenster ins Innere zu blicken, doch die Vorhänge waren ganz zugezogen. Also ging er ums Haus herum zur Hintertür. Abgeschlossen. Über etwas Unkraut trampelte er an eine Hausseite, zog eine kleine Taschenlampe heraus und leuchtete auf das Badfenster.
Es war offen.
Sein Puls beschleunigte sich, als der Lichtstrahl über die Glasscherben glitt, die überall herumlagen. Jemand hatte die Scheibe eingeschlagen, das Schloss geöffnet und war anschließend eingestiegen. Jedenfalls sah alles danach aus.
Will achtete darauf, nicht auf die Scherben zu treten, um etwaige Fingerabdrücke nicht zu zerstören, als er sich auf den Weg zurück zur Veranda machte. Dort klingelte er an Amys Tür. Sie öffnete ihm im Morgenmantel.
»Madam. Es sieht so aus, als wäre nebenan eingebrochen worden.«
Sie sah ihn mit großen Augen an und beugte sich nach vorne, um einen Blick auf Courtneys Eingangstür zu werfen.
»Das Badfenster ist eingeschlagen«, erklärte er. »Ich
muss das überprüfen. Sie haben nicht zufällig einen Schlüssel?«
»Doch, habe ich. Aber – haben Sie gerade gesagt, dass es bei uns einen Einbruch gab? Ich war den ganzen Abend hier und habe nichts gehört.«
Will speicherte die Information, während sie verschwand, um den Schlüssel zu holen. Vielleicht hatte der Einbruch bereits gestern stattgefunden, als Courtney bei ihm war.
Oder vielleicht war es heute passiert, und Courtney war da gewesen.
Amy kehrte zurück und gab Will den Schlüssel. Er steckte ihn in das Schloss und sperrte auf. Als er die Tür aufdrückte und eintrat, wäre er beinahe über etwas Weiches gestolpert.
Kapitel 17
Ein Sofakissen?
Will drückte auf den Lichtschalter.
»Oh, mein Gott!«, kreischte Amy.
Das Haus war auseinandergenommen worden. Und zwar gründlich.
»Gehen Sie zurück in Ihr Haus«, befahl Will. »Sperren Sie die Tür ab und rufen Sie die Polizei.«
Will zog seine Waffe und schritt rasch durch den Gang. Er erreichte die geschlossene Schlafzimmertür, vor der er einen Augenblick zögerte. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Dann stieß er die Tür auf und schaltete das Licht an.
Hier waren sie zusammen gewesen. Jetzt waren alle Schubladen herausgerissen und der Schrank durchwühlt. Überall lag ihre Kleidung herum.
»Courtney?« Er krächzte ihren Namen, als er den ersten Schritt in das Zimmer tat, um unter das Bett zu blicken, in den Schrank …
Danach eilte er ins Badezimmer. Der Duschvorhang war heruntergerissen und die Wanne mit einem braunen Fußabdruck beschmiert. Der Inhalt von Courtneys Arzneischrank lag auf dem Boden verstreut, ebenso wie zerbrochene und ausgelaufene Döschen und Fläschchen Kosmetika.
Er stürzte in die Küche und sah sich auch dort gründlich um. Die Tür zum Vorratsschrank stand offen, ebenso der Kühlschrank. Will riss die Abstellkammertür auf, fand aber nichts weiter als einen Haufen aus den Regalen geworfener Reinigungsmittel.
Sie war nicht da.
Doch wo war sie hin? Hatte man sie wie Pembry
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