Der stumme Ruf der Nacht
erhalten? Irgendeine Nachricht?«
»Nein.« Tränen traten in Fionas Augen. Da wusste er, dass sie die Wahrheit sprach. Sie hatte nichts von ihrer Schwester gehört und sorgte sich um sie. Genau wie er.
»Kann ich was tun? Gibt es Verwandte, bei denen ich suchen könnte?«
Fiona starrte auf den Boden, und er spürte, wie sie mit sich kämpfte. Dann sah sie ihm wieder in die Augen. »Verrat mir mal, warum ich dir helfen sollte, sie zu verhaften?«
»Diese Idee ist nicht auf meinem Mist gewachsen.«
Sie schnaubte. »So, und auf wessen dann?«
»Das kam von oben«, antwortete Will und wünschte sich, dass er offener mit ihr sprechen könnte.
»Cernak ist doch ein Arschkriecher.« Sie ballte die Fäuste. »Hat er denn überhaupt nur ein einziges Mal mit diesem Jogger aus dem Park gesprochen? Wer waren seiner Meinung nach diese zwei Typen? Und weiß er überhaupt, was im Haus meiner Schwester passiert ist?«
»Keine Ahnung.«
»Glaubt er etwa, dass sie das selbst veranstaltet hat? Als ob er mit Scheuklappen durch die Gegend rennt.«
»Ich weiß, ich weiß.« Will trat einen Schritt näher und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu. »Und ich gebe dir auch recht. Ich verfolge in diesem Fall eine ganz andere Theorie. Aber ich muss Courtney finden. Dass sie sich einem Haftbefehl entzieht, macht ihre Geschichte nicht glaubwürdiger.«
»Ihre Geschichte? Das klingt, als hätte sie sich das alles ausgedacht. Du sprichst so, als hieltest du sie für schuldig.«
»Es wirkt wie ein Schuldeingeständnis, wenn sie wegläuft, das weißt du genau. Ich muss sie also finden. Und du musst mir dabei helfen.«
Fiona sah zu Boden und biss sich auf die Lippe.
»Hat sie irgendwo eine Freundin? Oder vielleicht einen Ex-Freund? Sie hat nicht so viel Geld, also kommt sie ohne Hilfe nicht weit.«
Fiona schüttelte den Kopf.
»Hast du ihr denn Geld geliehen?«
»Nein.« Wieder schaute sie ihm ins Gesicht, und sie schien eine Entscheidung getroffen zu haben. »Ich habe ihr keinen Cent gegeben. Aber mein Pass ist weg.«
»Dein Pass ist weg.« Ihm sank der Mut.
»Ich weiß nicht mit Sicherheit, ob sie ihn hat, aber -« Sie schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen. Sie sieht mir aber doch ziemlich ähnlich. Also, ich glaube, möglicherweise will sie das Land verlassen.«
Will starrte auf den Fernseher. Er war zu erschöpft, um sich zu bewegen. Ja, er war sogar zu erschöpft, um zu schlafen. Die Yankees führten gegen die Red Sox, aber selbst wenn ihn jemand mit vorgehaltener Pistole zwänge, könnte er ihm nicht den Spielstand sagen.
Er streckte den Arm aus und tippte auf den Laptop, der auf dem Tisch neben der Couch stand. Keine neuen E-Mails. Auch der Akku seines Handys war noch voll.
Er trank einen Schluck Bier.
Als er von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er beschlossen, sich zu betrinken. Zumindest dabei konnte er Erfolge verzeichnen, wenn man die sechs leeren Flaschen auf dem Couchtisch so sah.
Walter Arschloch Green.
Geweihter Priester. Jugendleiter. Geistlicher Beistand mit einer Vorliebe für alleinerziehende Mütter und schwierige Kinder. Die letzten drei Stunden hatte sich Will ausgemalt, auf welche Weise er den Scheißkerl umbringen würde, wenn er nicht schon tot wäre.
Der Akte aus Kalifornien zufolge war Greene vier Jahre mit einer gewissen Denise McCowen Glass verheiratet gewesen, die als Kellnerin in Teilzeit arbeitete
und zwei Töchter hatte. Die Polizei war mehrmals in das Haus des Paares gerufen worden, einmal wegen einer gewalttätigen Auseinandersetzung, bei der auch eine zerbrochene Whiskyflasche im Spiel war. Denise hatte behauptet, dass ihr Mann sie damit hatte schlagen wollen. Er jedoch gab an, dass sie zerbrochen war, als seine Frau sie ihm zu entwenden versucht hatte und dabei gegen die Wand geknallt war. Danach sei sie mit einer Pistole auf ihn losgegangen und habe einen Schuss abgefeuert. Anschließend habe sie die Polizei gerufen.
Der Polizeibericht schien die Variante des Priesters zu bestätigen. Greene gab an, dass seine Frau Alkoholikerin auf Entzug war und er sie so bald wie möglich wieder in Behandlung schicken wollte. Im Bericht stand, dass er die Beamten bat, seine Frau nicht zu verhaften, sondern für sie zu beten.
Der Notruf war von der vierzehnjährigen Fiona Glass getätigt worden. Die elfjährige Courtney Glass war ebenfalls Zeugin des Geschehens.
Außerdem enthielt die Akte die Zusammenfassung eines späteren Vorkommnisses, bei dem Courtney als Zweiundzwanzigjährige
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