Der stumme Ruf der Nacht
er nicht einmal sicher, ob er das überhaupt glaubte. Aber Fiona hatte Devereaux schon mehrmals gesagt, dass sie keine Nachricht bekommen hatte, und Devereaux schien es nicht zu bezweifeln.
»Mann, du siehst ziemlich scheiße aus«, sagte sein Partner. »Was hältst du davon, wenn wir im Smokin’ Pig essen gehen?«
Will senkte den Blick auf die Notizen. »Ich stoße immer wieder auf diesen Prozess. Zwei Anwälte. Einer männlich, einer weiblich. Es ist Lindsey Kahn. Du weißt doch, damals bei der Beerdigung?«
Devereaux seufzte. Es war offensichtlich, dass sich Will nicht von seinem Schreibtisch weglocken lassen wollte, auch wenn es fast zehn Uhr war. Er holte sich einen Stuhl aus der benachbarten Büroparzelle und ließ sich darauf nieder.
»Ja, ich erinnere mich. Blond. Hübsch. Was ist mit ihr?«
»Sie ist anscheinend die jüngste Partnerin in der Kanzlei. Die am wenigsten erfahrene Anwältin, und dennoch bekommt sie den wichtigsten Fall der Firma. Sie und Alvin.«
Devereaux verschränkte die Arme. »Geschworene mögen eben hübsche Anwältinnen. Was soll daran außergewöhnlich sein? Viele Unternehmen lassen sich nach außen von Leuten mit nettem Gesicht vertreten.«
Will klopfte mit dem Bleistift auf seine Notizen.
»Was ist aber, wenn das sorgfältig geplant war? Ein Mann und eine Frau. Der Vorsitzende der Geschworenen wird erst bestimmt, wenn die Gerichtsverhandlung abgeschlossen ist und die Beratungen beginnen. Was also wäre, wenn Wilkers & Riley sich auf alle Eventualitäten vorbereiten wollten?«
»Meinst du, sie wollten, dass für jeden etwas dabei ist?«
»Exakt.« Will beugte sich nach vorne. »Stundenlang bekommen die Geschworenen nichts anderes zu hören als langweilige Zeugenaussagen, elende Expertisen von Ärzten, Wissenschaftlern und Pharmakologen. Die sind doch um jede Abwechslung dankbar. Mann, Pembry hat sich so gelangweilt, dass er diese komischen Bildchen gemalt und sich Wortspiele ausgedacht hat.«
»Okay, ihnen war langweilig. Na und?«
»Und danach haben sie sich acht Tage lang beraten«, legte Will dar. »Mit einem Wochenende Pause. Was, wenn die Anwälte spitzgekriegt hatten, wer den Vorsitz übernehmen würde? Und sobald die Entscheidung gefallen war, damit begannen, das Urteil zu beeinflussen?«
Devereaux runzelte die Stirn. »Gut, aber warum dann nur die Vorsitzende? Sie brauchten doch zehn Stimmen, um zu gewinnen.«
»Schon, aber die Vorsitzende ist entscheidend. Den Vorsitz übernimmt normalerweise eine gewinnende Persönlichkeit. Jemand, der die anderen Geschworenen beeinflussen kann. Eve Caldwell war Verkäuferin, das passt also. Nun bestand diese Jury vor allem aus Männern, was die Wahl eines Vorsitzenden zunächst wahrscheinlich
macht. Deswegen setzen sie ihnen erst einmal Lindsey Kahn vor die Nase. Als aber Caldwell Vorsitzende wird, übernimmt Alvin die Sache.«
»Das wäre allerdings kein Kavaliersdelikt mehr«, stellte Devereaux fest. »Das würde sie nicht nur die Zulassung kosten. Für eine solche Manipulation in einem Prozess könnten beide Anwälte ins Gefängnis wandern.«
Will zuckte die Achseln. »Sechzig Millionen sind ein schöner Batzen Geld.«
»Außerdem ist der Plan riskant. Angenommen, der oder die Vorsitzende geht darauf nicht ein? Es könnte ja auch eine brave Bibliothekarin sein, die ihren Mann immer noch liebt?«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Will. »Aber vielleicht wurde nicht nur Eve Caldwell bearbeitet. Vielleicht hat sich Kahn auch mit den anderen männlichen Geschworenen befasst und den einen oder anderen nach dem Ende der Beratungen getroffen? Der ganze Prozess hat neun Wochen gedauert. Vielleicht haben sie nicht gewartet, bis sich die Geschworenen zur Beratung zurückgezogen haben? Sondern schon vorher überlegt, mit welchen Gefälligkeiten sie wen gefügig machen könnten.«
»Und was haben die betroffenen Geschworenen davon?«
»Sex. Befriedigte Eitelkeit. Mal was anderes, die berühmte Unterbrechung des Einerlei.«
Devereaux lehnte sich zurück. Er schien über Wills Worte nachzudenken. »Du warst mindestens ein Dutzend Mal in dieser Kanzlei. Wir haben ihre Finanzen
durchforstet und ihnen auch persönlich auf den Zahn gefühlt, doch herausgekommen ist dabei nichts.«
»Vielleicht sind wir zwei die Einzigen, die sich wirklich damit beschäftigen«, sage Will bitter. Er war noch immer empört, dass Cernak einen Haftbefehl gegen Courtney beantragt hatte. Für ihn und Webb war der Fall klar. Andere Meinungen
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