Der stumme Tod
Trösten.
Wir sehen uns morgen auf dem Ball. Ich versuche, um halb sieben bei
Dir zu sein, dann könnten wir gemeinsam hinfahren.
In Liebe Kathi.
PS: Auf dem Herd steht noch etwas Eintopf. Du weißt ja: Schmeckt aufgewärmt am besten.
Rath legte den Zettel zurück auf den Tisch.
Einerseits fühlte er eine ungeheure Erleichterung, andererseits umfing ihn nun, da er wusste, dass sie nicht mehr in der Wohnung war, eine Einsamkeit, die beinahe körperlich schmerzte. Er fror, obwohl sie die Heizung angelassen hatte. Eben noch war er ihr aus dem Weg gegangen, hatte sich vor ihr in seinen Sessel und in den Cognac geflüchtet, hätte sie am liebsten zum Teufel gewünscht. Und nun spürte er ihre Abwesenheit wie einen stechenden Schmerz.
Wenigstens konnte er jetzt ins Bett gehen. Aber wollte er das auch?
Mit einem Mal schnürte ihm eine ungeheure Angst die Kehle zu.
Die Nacht war noch nicht zu Ende. Sie fing gerade erst an.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, legte Coleman Hawkins auf und öffnete die Cognacflasche.
Kapitel 8
Er starrt auf die Schlagzeile und versucht sich einzureden, dass es nur Buchstaben sind. Fette schwarze Buchstaben auf billigem
Papier.
Tod im Filmatelier! Betty Winter von Scheinwerfer erschlagen! Es sind nur Buchstaben.
Buchstaben sind nicht die Wirklichkeit.
Nur ein Tag später, und er wüsste, dass sie lügen. Der Tod könnte sie nicht mehr holen, nie mehr könnte er das, denn sie wäre längst unsterblich.
Er lässt die Zeitung sinken. Der frische Kaffeeduft zieht zu ihm herüber und wirkt mit einem Mal weniger wirklich als die Buchstaben auf dem Papier, als das, was die Buchstaben auf dem Papier ihm sagen, und verstärkt das Gefühl der Ohnmacht, einer seit Jahren nicht mehr gespürten Ohnmacht.
Sie ist ihm entrissen worden.
»Haben der gnädige Herr noch einen Wunsch?«
Albert steht da, wie er immer dagestanden hat, all die Jahre, auch in jenen düsteren, kalten Jahren. Jenen Jahren, die er am liebsten aus seinem Leben radieren würde.
Albert ist immer da, ist immer da gewesen. Jeden Tag, jeden einzelnen.
Der Tag, an dem die Welt ...
Der Tag, an dem die Welt sich verabschiedet aus seinem Leben. Albert steht am Fenster und zieht die schweren, samtgrünen Vorhänge zu. Es wird dunkel, nur das schummrige Gaslicht bleibt im Raum zurück.
Und die besorgten Gesichter, die strengen Gesichter, die ihn anschauen, als wollten sie ihn festnageln mit ihren Blicken, für immer festnageln in diesem Raum.
Sie haben ihn erwischt. In der Speisekammer.
Was haben sie gedacht? Was haben sie von einem fünfzehnjährigen Jungen erwartet?
Von einem fünfzehnjährigen, bis auf die Knochen abgemagerten Jungen, den der Hunger quält? Den der Hunger quält in einem der reichsten Häuser der Stadt, in dessen Küche allein sechs Angestellte arbeiten? Dessen Speisekammer sich mit denen der teuersten Restaurants messen kann?
Er hat es schon seit Wochen getan. Er hat gewusst, wann die Küche leer und der Ausflug ungefährlich war. Er hat mit knurrendem Magen vor all den Köstlichkeiten gestanden und doch nur zaghaft probiert, von den Dingen, die er nicht essen durfte.
Von den süßen.
Ganz gleich wie viel er isst, er wird nicht dick, so ist das, seit ihn die Krankheit heimgesucht hat.
Und dennoch haben sie es gemerkt.
Vater hat es gemerkt und seinem eigenen Sohn diese hinterhältige Falle gestellt.
Die Scham, mit rot beschmiertem Mund in der Speisekammer zu stehen, die Saftflasche noch in der Hand, unter ihren Blicken. Wenn sie ihm wenigstens einen Vorwurf machten, aber ihre Blicke zeigen nur Enttäuschung. So stehen sie da und starren ihn an.
Er ist doch noch ein Kind, Richard, sagt die Mutter. Sie hat Tränen in den Augen.
Wir müssen ihn vor sich selbst schützen, sagt der Vater. Sonst wird er nie erwachsen werden.
Die Dienstboten schweigen.
Albert schließt die schwere Tür, der Schlüssel dreht sich laut im Schloss, dann ist es geschehen. Die Gefangenschaft hat begonnen, die Welt bleibt draußen.
Zwar lassen sie ihn noch vor die Tür, aber immer nur unter Aufsicht, zwei Aufpasser ständig um ihn herum, nein, dem kann er sich nur verweigern.
Er fügt sich in sein Schicksal.
Findet sich damit ab, keine Freunde mehr zu haben. Keine Liebe mehr zu finden in dieser Welt.
Fünfzehn Jahre, und über alles hat sich ein dunkler Vorhang gelegt.
Lass es nicht zu! Schaffe dir deine eigene Wirklichkeit! Ohne Schmerz. Ohne Hunger. Ohne Krankheit.
»Haben der gnädige Herr noch einen Wunsch?«
Albert
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