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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Johansson
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Hinausgehen, »ist ausgerechnet dieses kleine Land am nördlichen Rand Europas für uns so wichtig? Das ist doch eigentlich ein Land für Zwerge.«

Sechzehn
    Als Ronny Gustavsson an diesem Tag aus seinem kleinen Redaktionsbüro nach Hause zurückkehrte, in seine Zweizimmerwohnung in der Stadtmitte von Osby, hatte er gute Laune. Eigentlich ein nichtiger Anlass, dachte er, und er hat gar nichts mit mir zu tun. Die Polizei hatte den Mercedes des Belgiers gefunden. Oder genauer: Sie hatte ihn beschlagnahmt, im Hafen von Karlshamn, in Blekinge, als er gerade in die Fähre nach Klaipeda in Litauen verladen werden sollte. Der Mercedes hatte schon weißrussische Papiere. Zwei Männer waren festgenommen worden, Weißrussen auch sie. Von der jungen Frau gab es keine Spur. Hatte Ronny nicht erst vor ein paar Wochen in der Zeitung gelesen, in jenem Staat fahre selbst der Justizminister ein gestohlenes Auto? Jetzt freute er sich, dass der Belgier seine »belle machine« zurückbekommen würde. Und selbstverständlich war da der Verdacht, die beiden Räuber könnten auch etwas mit dem Mord an dem Deutschen zu tun haben.
    Vor der Haustür bemerkte Ronny, dass der Flieder schon fast in Blüte stand. Es standen ein paar große, struppige Büsche vor seinem Haus. Er mochte den Geruch. Er stieg die Treppe hinauf und pfiff dabei die Melodie des alten Psalms »Den blomstertid nu kommer«, merkte aber zuerst gar nicht, was er da tat – und musste dann über sich selber lachen. Jeder Schwede kennt dieses Lied. Es wird in jedem Jahr von jeder Schulklasse gesungen, am letzten Tag des Schuljahrs, am Ende der letzten Stunde. Dann beginnt die große Freiheit. Wenn der letzte Ton verklungen ist, fangen die Sommerferien an, und keiner vergisst dieses Gefühl von Aufbruch und Offenheit, solange er lebt. Es ist sofort wieder da, wenn die Melodie erklingt, und je älter man wird, desto mehr mischt sich das Gefühl mit einem leisen, aber scharfen Schmerz – denn das alles ist so lange her.
    Wie immer, wenn Ronny nach Hause kam, schaltete er zuerst den Computer an. Früher hatte er das meistens getan, um seine privaten Mails zu lesen, von denen es nie viele gab. Wer hätte ihm auch schreiben sollen? Höchstens die Anbieter von hochaufgelösten Musikaufnahmen im Internet. Seitdem er zum ersten Mal das Bild des Toten als lebendigem Menschen auf dem Bildschirm des Kommissars gesehen hatte, war diese Routine ausgesetzt: Er versuchte, sich Christian Meier vorzustellen. Sein Interesse sei nicht kriminalistisch, versicherte er sich selber, er wolle nur eine Idee von dem Mann haben, dessen Leiche er auf dem Boden einer Scheune in Visseltofta gesehen hatte. Und hatte nicht Gilles Deleuze davon gesprochen, im Fleisch sei der Mensch mit dem Tier verwachsen?
    Seine Neugier war gewachsen, als er am Tag zuvor die Nachrufe in den deutschen Zeitungen gelesen hatte, große, traurige, tiefschwarze Artikel im Gedenken an einen, der ein journalistisches Genie gewesen sein musste, der die Stimmung der Zeit in Worte fassen konnte, der ein großes Publikum beschäftigte, im Guten wie im Bösen. Und je mehr Ronny in diesen Artikeln las, je häufiger er dieses Gesicht mit den durchdringenden blauen Augen betrachtete, desto näher rückte ihm der Mensch, der Mann mit diesem alten Kinderantlitz, das, offenbar von einem Augenblick zum anderen, von grenzenloser Gutmütigkeit zu äußerster Bosheit changieren konnte. Nein, das war kein Dummkopf gewesen, sondern ein interessanter Mensch, einer, dem man vielleicht nicht zu nahe hätte kommen dürfen, aber einer, der Ideen hatte. Um so absurder mutete dieses Ende an, dieses Sterben in einer verlassenen Scheune tief in den schwedischen Wäldern, so lange vor der Zeit. Und dann noch der Dachs.
    Die schwedischen Zeitungen hatten Bilder des Journalisten veröffentlicht. Nach seinem Auto wurde gesucht. Er war, das hatte Ronny in den deutschen Blättern gelesen, in den Vereinigten Staaten gewesen, hatte plötzlich seinen Rückflug umgebucht, hatte, zurückgekehrt nach Berlin, seinen Wagen genommen – ohne jemandem Nachricht zu geben – und war über Warnemünde und die Öresundbrücke nach Schweden gefahren, bis er an diesem Imbiss bei Älmhult tanken musste. So weit reichte die Fährte der Kreditkarte. Aber dann war da nichts mehr, kein Zeichen, keiner, der ihn gesehen hatte. Keiner, der wusste, wohin er gewollt hatte. Da war nur noch die Leiche. An der mutmaßlichen Mordwaffe, der Schaufel, hatten die Techniker der Polizei nur

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