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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Johansson
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Deutschland, weiter bis nach Berlin, wäre die Fahrt über die Brücke nicht so teuer gewesen: Fünfhundert Kronen hätte sie gekostet, und er hatte an diesem Abend doch schon fast einen Tank verfahren. Er war einfach blank. Und so stand er auf der Uferbefestigung unterhalb des Besucherzentrums, schaute hinauf auf den riesenhaften, erleuchteten Bogen der Brücke, der hinüberführte zum Kontinent, zur großen Welt, und fühlte sich heftig zurückgestoßen. Er schämte sich und wusste nicht, warum er das tat. Wie ein Geschlagener kehrte er um. Es war fast drei Uhr, und der Morgen kündete sich in einem orangeblauen Schein im Nordosten an, als er endlich wieder zu Hause war.

Achtzehn
    Immer wieder hatte Ronny Gustavsson in den vergangenen beiden Tagen an Lorenz Winkler gedacht. Dieser deutsche Student, den er in den Vorlesungen von Gilles Deleuze an der Universität Paris VIII in Saint-Denis kennengelernt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn: ein schüchterner, ja fast scheuer junger Mann, der nicht nur seine theoretischen Interessen geteilt hatte, sondern auch seine technischen und musikalischen – Lorenz hatte damals, ganz allein in seiner Studentenbude im 7 . Arrondissement, einen kleinen monophonen Synthesizer gebaut. Und auch die Frauen waren Lorenz so fern gewesen, wie sie Ronny gewesen waren. Aber vielleicht war es auch umgekehrt, dass sie beide den Frauen fern gewesen waren. Lange, einsame, vertrauliche Abende zu zweit hatte es gegeben, von Rotwein begleitet, die meist erst am frühen Morgen geendet hatten, oft in einem Billardlokal, manchmal mit einem langen Spaziergang durch die Stadt. Lorenz war vor ein paar Tagen aus dem Internet aufgetaucht, weil Ronny ihn gesucht hatte. Offenbar war er seit ein paar Jahren Professor für Philosophie an der Universität Berlin. Seitdem Ronny wusste, wer der Tote in der Scheune war, hatte ihn immer wieder der Gedanke überfallen, er müsse jetzt Lorenz anrufen. So stark wurde der Impuls, dass er schließlich das Telefon nahm und die Nummer wählte, die er im Berliner Telefonbuch gefunden hatte.
    »Ja?«
    »Hallo, hier ist Ronny.«
    »Wer ist da?«
    »Ronny. Ronny Gustavsson aus den Vorlesungen von Gilles Deleuze.«
    »Ronny«, Lorenz sprach den Namen jetzt sehr gedehnt aus, so als müsse er ihn mühsam zurückholen aus tiefer, langer Vergangenheit. Oder als müsse er sich daran erinnern, dass Französisch einmal beinahe seine zweite Muttersprache gewesen war. »Ronny, c’est toi! Aber wo bist du denn?«
    »In Schweden, zu Hause, aber das ist eine komplizierte Geschichte.«
    »Tu vas bien? Geht es dir gut? Sag mal, es ist fünfundzwanzig Jahre her, dass wir uns das letzte Mal sprachen.«
    »Ich weiß, und ja, es geht mir gut. Aber es ist alles anders als früher.«
    »Was ist anders?«
    »Nun, es gibt kein Studium mehr, keine Philosophie, keinen Marx und keinen Freud. Ich lebe jetzt hier in Osby, aber das wirst du nicht kennen. Ich bin hier aufgewachsen. Ich schreibe für die Lokalzeitung.«
    »Ach, Ronny. Ich bin immer noch an der Uni.«
    »Ich weiß, du gibst in diesem Frühjahr ein Seminar über Goethes Faust und das Geld.«
    »Du hast im Netz nach mir gefahndet.«
    »Selbstverständlich habe ich das.«
    »Warum die Ehre? Ich meine, ich freue mich, dass du dich meldest, nach so vielen Jahren. Aber hast du einen speziellen Anlass?«
    »Ja, ich habe Christian Meier gesehen, den Chefredakteur, als Leiche, in einer Scheune auf einem Hof nicht weit von hier.«
    »Tu as fait quoi, du hast was?« Lorenz war hörbar erschrocken. »Weißt du, hier ist von nichts anderem mehr die Rede, seitdem, warte, seitdem vorgestern die Nachricht kam, dass man ihn tot in Schweden gefunden hat. Er sollte in Amerika gewesen sein, weißt du, und dann starb er in Schweden. Es ist vielleicht schwierig, sich vorzustellen, wie wichtig er wirklich war, auch für die, die ihn hassten.«
    »Du meinst wie in den Nachrufen: ein großer Prophet und ein kleiner Zauberer, eine Kassandra und ein Politiker, ein Intellektueller und ein Geschäftsmann, und alles zugleich, so wie der ›Bel Ami‹ von Maupassant und ›Citizen Kane‹ von Orson Welles, nur in unsere Zeit übertragen und vielleicht noch viel größer. Soviel habe ich verstanden.«
    »Sag, was hast du damit zu tun?«
    Und Ronny erzählte dem verlorenen Freund die Geschichte vom Alarm und von Bertil Cederblads Hof, vom Dachs und von den Schlüsseln, von Pelle Larsson und vom plötzlichen Einbruch der großen Welt in die tiefste Provinz. Als

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