Der Sturm
er geendet hatte, war die Telefonleitung still.
»Lorenz?«
»Ja, aber das ist ja alles ganz unglaublich. Ich kannte ihn, wir alle kannten ihn, das heißt: alle, die irgendetwas mit Medien und Öffentlichkeit zu tun haben. Und ja, gewiss, manchmal sterben Leute, bei einem Autounfall, oder sie bringen sich um, wie Deleuze. Aber so, so rätselhaft, so weit weg von allem, und dann umgebracht werden, das hat es noch nicht gegeben. Was denken denn die Leute bei euch, was glaubt die Polizei?«
»Schwer zu sagen. Ich glaube, es wäre der Polizei am liebsten, sie hätte es mit einer Art Raubmord zu tun. Mit irgendeiner Art von Kriminalität, die sie gut kennt. Obwohl ja ein solches Verbrechen nicht viel erklären würde.«
»Nein, vor allem nicht, warum er zu euch in die Wälder gefahren ist.«
»Sag, hast du ihn mal getroffen?«
Lorenz zögerte, dann sprach er in jener rasenden Manier, die Ronny von früher kannte. »Ja. Sogar mehrmals. Ich kenne keinen Menschen«, sagte er dann, »der so das Interesse der Leute auf sich zog. Man machte sich keine Illusionen über ihn, ich meine, er wechselte seine Anschauungen, manchmal von Woche zu Woche, er war korrupt, oder jedenfalls sagen das Menschen, die es wissen müssen, weil sie mit ihm arbeiteten. Er wurde gefürchtet, vor allem von seinen Redakteuren. Es war wohl so, dass er grausam sein konnte, und er war doch lange Zeit unerhört erfolgreich, auf eine beinahe verrückte Weise effizient, ein Irrfahrer, der unglaublich oft einfach recht hatte. Was das Internet für die Gesellschaft bedeuten wird, und auch für die Wirtschaft, welche Möglichkeiten in der Gentechnik stecken – er hatte das alles geahnt, früher als die meisten. Er war so, sage ich, in der Vergangenheitsform. Denn in jüngster Zeit, im vergangenen Jahr – oder in den letzten beiden Jahren – hatte er sich irgendwie verändert, oder die Leute hörten ihm nicht mehr so gebannt zu, er schien an die Seite zu rutschen, und ein paarmal wirkte er fast komisch, wenn er wieder einmal den Untergang der Welt beschwor.«
»Lorenz?«
»Ja?«
»Er scheint so, wie soll man das sagen, in die Zeit zu passen, oder nicht?«
»Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht, über die erratische Bahn, über das ›against all odds‹ als Normalfall. Er führte seine Zeitung wie ein Bankier einen Hedgefonds, als spekulatives Geschäft. Dauernd passierte etwas, das zu keinem vorhersehbaren Verlauf, zu keinem Skript passte. Meistens ergab es später irgendeinen Sinn, aber womöglich nicht den geplanten. Aber es stimmt schon, irgendwie war da etwas, das von Grund auf fatal war.«
»Uff, du redest wie früher. Man kommt kaum mit. Aber so ähnlich hat das Benigna auch gesagt: Und dann liegt so einer plötzlich in einer Scheune in Visseltofta.«
»Ach, du kennst sie noch? Seid ihr zusammen? Endlich?« Lorenz lachte.
»Nein.« Es folgte eine lange Pause. »Hör mal, ich würde vielleicht gern nach Berlin kommen«, sagte Ronny dann, »nur für ein paar Tage, wenn es geht. Dann könnten wir reden, wie früher. Oder du gibst mir eine Vorlesung, und ich höre zu, auch wie früher.«
Lorenz war nicht überrascht: »Du könntest hier schlafen, in meiner Wohnung, es gibt ein Gästezimmer. Ich muss allerdings an die Uni, eigentlich jeden Tag.«
»Ich schau mal, wann es möglich ist. Ein schwarzer Prophet, dem das Publikum davonläuft, das ist nicht schlecht, das habe ich noch nie erlebt. Ich würde gerne mehr wissen. Ist das jetzt so in Berlin?«
Lorenz lachte wieder: »Komm du mal her. Du wirst schon sehen.«
Neunzehn
Ein tiefblauer Frühlingstag ging über New York seinem Ende entgegen, und die Luft war sehr klar. Die Investmentbanker von Goldman Sachs, JP Morgan und Merril Lynch hätten aus den oberen Etagen ihrer Türme bis weit über Staten Island und Brooklyn hinaus auf die Lower Bay und im Nordosten bis zu den Catskill Mountains schauen können. Sie hatten jedoch keine Zeit und keinen Kopf dafür.
Vor allem im Frühjahr und im Herbst gibt es solche Tage, an denen die New Yorker Luft beinahe ganz durchsichtig wird. Sie lässt die Stadt viel kleiner erscheinen, als sie ist.
Man sieht dann durch die geraden Straßenzüge hindurch auf blaue Meeresluft, bemerkt so, dass Manhattan eine Insel ist, dass Staten Island oder Brooklyn viel größer sind als Manhattan, und ahnt auf der Ostseite, oder nach Norden, eine gewaltige Landmasse, die mit Manhattan nur sehr wenig zu tun hat: tiefe, ländliche Ebenen, wo die Bauern jetzt das
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