Der Sturm
ganzen Leben noch nie jemand Gefühlloseres erlebt als dich! Was, wenn die Insassen tot sind?« Rose nahm neben Julia Platz.
»Davon war nicht die Rede, Rose! Nur dass sich der Wagen überschlagen hat. Von Toten hat niemand etwas gesagt.«
»Vielleicht wüssten wir mehr, wenn du Idiot endlich vom Fernseher weggehen würdest«, knurrte Chris. Er sah an Ben vorbei. Irgendetwas stimmte nicht an den Fernsehbildern, aber er kam nicht darauf, was es war.
Rose seufzte. »Was für ein Glück, dass uns nicht mehr passiert ist. Du hast wirklich rechtzeitig reagiert, Chris.«
Chris hätte Rose dankbar für diese Worte sein können, wäre da nur nicht das Gefühl gewesen, dass er tatsächlich die Kontrolle über den Wagen verloren hatte.
Wieder flackerte das Bild und erlosch schließlich völlig. Stille trat ein. Nur das Heulen des Sturms war zu hören und das Brabbeln von Debbie, die im Badezimmer war und offenbar mit sich selbst sprach.
»Wie lange ist sie eigentlich schon da drinnen?«, fragte Benjamin.
»Über eine halbe Stunde«, erwiderte Rose. »Langsam mache ich mir wirklich Sorgen.«
»Vielleicht solltest du mal nach ihr schauen«, meinte Chris, an Julia gewandt, die in eine Wolldecke eingewickelt, mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl saß. Beide Hände hielten eine Tasse heißen Tee fest umklammert.
»Sie hat abgeschlossen«, erklärte sie erschöpft und nahm einen Schluck. Dann stellte sie die Tasse zurück. »Debbie schließt immer ab. Aber wenn wir im Bad sind, kommt sie einfach rein.«
Chris zuckte mit den Schultern. Im Grunde war er froh, Debbie nicht sehen zu müssen. Er hatte den starren Blick in ihren Augen nicht vergessen, als Steve die Mädchen durch den Haupteingang hereingelassen hatte. Sie war so durchgefroren gewesen, dass sie fast nicht mehr alleine hatte laufen können.
Rose schüttelte genervt den Kopf, erhob sich zum bestimmt zwanzigsten Mal, trat an die Badezimmertür und klopfte.
»Debbie!«, rief sie. »Debbie, alles in Ordnung bei dir?«
Leises Murmeln.
»Komm endlich raus! Ich möchte mir deine Wunde ansehen.«
Keine Antwort.
»Debbie, hast du die Wunde mit dem Mittel desinfiziert, das ich dir gegeben habe?«
»Alles okay«, hörten sie Debbie. Ein zitterndes Schluchzen lag in ihrer Stimme. Dann lief erneut das Wasser.
»Weinst du?«, fragte Rose.
»Wäre das etwas Neues?«, entgegnete Benjamin. »Debbie heult doch ständig.«
»Sie hat vorhin so wirres Zeug geredet«, flüsterte Rose kopfschüttelnd.
»Auch das tut sie ständig.«
»Aber diesmal ist es anders. Dauernd zählt sie irgendwelche Listen auf. Echt gruselig. Nein, ehrlich, ich glaube, es stimmt wirklich etwas nicht mit ihr. Ein Arzt sollte sie sich ansehen.«
»Ich kann noch mal zu Steve gehen«, schlug Julia vor. »Er soll das Krankenhaus in Fields informieren, und sobald die Straße frei ist, bringen wir sie zum Arzt. Oder sie schicken jemanden.«
Chris deutete auf das Schneechaos vor dem Fenster. »Bei dem Wetter? Das kannst du vergessen.«
Wie zur Bestätigung klirrten die alten Fensterscheiben, die dem ständigen Druck des Windes ausgesetzt waren. Die Apartments waren im Gegensatz zu den Seminarräumen und Empfangshallen nie renoviert worden. Schon an normalen Tagen zog es in ihnen wie Hechtsuppe und jetzt hoffte Chris nur, dass die Scheiben der Belastung standhalten würden.
»Wann hört das bloß wieder auf?«, murmelte Rose.
»Mann«, rief Benjamin. »Wir sollten hier nicht herumsitzen und Trübsal blasen, Leute. Werdet mal locker. Das Schicksal hat uns hierhergeführt und wir sollten es genießen, dass wir das ganze Collegegebäude für uns haben. Ich weiß, womit wir diesen Sturm hinter uns bringen können!«
»Womit denn?«, fragte Rose.
»Filme schauen.«
»Du siehst doch, dass der Fernseher alle paar Sekunden den Geist aufgibt«, entgegnete Chris.
»Nein, richtige Filme unten im Kino. Ich habe jede Menge im Angebot. Fantasy, Thriller, Science-Fiction. Wollt ihr mehr Psycho oder mehr Blut? Sollen sie im Winter spielen oder im Sommer? Bevorzugt ihr Monster oder Psychopathen? Wie wäre es mit Eden Lake? Oder kennt ihr die ›Hügel der blutigen Augen‹? Sind beide geil.«
»Wenn es so weiterschneit«, seufzte Rose, »werden wir wohl das ganze Programm schaffen.«
»Umso besser!« Benjamin stand schon in der Tür und selbst hinter der Kamera, die er auf die Gruppe richtete, war die Vorfreude zu erkennen. »So sahen sie aus, bevor das Grauen seinen Lauf nahm. Wir treffen uns unten im
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