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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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insgesamt waren es zwölf Schränke. Und es herrschte eine peinliche Ordnung und Sauberkeit, fast wie in einer Kaserne.
    »Hier verstecken die sich also«, murmelte Benjamin und ging von Schrank zu Schrank. »Hey, hier ist der Spind von deinem Freund Steve. Ich wüsste nur zu gerne, was er da drinnen aufbewahrt.«
    Chris antwortete nicht.
    Plötzlich hatte er das dringende Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Immer wieder wischte er sie an der Hose ab, aber die Flecken gingen einfach nicht weg, und je mehr er es versuchte, desto unangenehmer schienen sie zu riechen.
    Er wandte sich einer Tür links von ihnen zu und stieß sie auf.
    Vor sich sah er eine Reihe von Waschbecken. Mit zitternden Händen drehte er den Kran auf, ließ warmes Wasser über die Hände laufen und wollte gerade sein Gesicht waschen, als...
    Scheiße, was war das?
    Warum färbte sich das Wasser rot?
    Es sah aus wie... Blut? Hatte er Blut an seinen Händen?
    Panisch ließ er Flüssigseife aus dem Spender an der Wand über seine Finger laufen, hielt sie erneut unter den Hahn, rieb sie wieder und wieder aneinander, und auch als das Wasser wieder klar wurde, hörte er nicht damit auf.
    Er war schweißgebadet und sein Herz schlug so schnell, dass ihm schlecht wurde. Dann blickte er auf und aus dem Spiegel über dem Waschbecken starrte ihm sein Gesicht entgegen. Es war so weiß wie die Duschvorhänge, die sich in seinem Rücken leicht bewegten.
    Und das war nicht alles.
    Er erkannte noch etwas im Spiegel. Hinter ihm ragte unter dem Duschvorhang etwas Schwarzes hervor.
    Nur entfernt nahm er wahr, dass Benjamin den Waschraum betreten hatte und murmelte: »Scheiße, was ist denn hier passiert?«
    Was Chris sah, war ein schwarzer Schuh, eine dunkelgraue Socke und – nackte Haut.
    Und am Boden erkannte Chris eine Spur aus Blut, die sich auf dem Duschvorhang fortsetzte.
    Und nun konnte er den Geruch nicht länger ignorieren.
    Er roch unangenehm bitter, irgendwie metallisch und war durchsetzt mit Schweiß. Nur jemand, der seit Längerem die Kleidung nicht gewechselt hatte, stank so.
    »Was ist denn hier passiert?« Im Spiegel beobachtete er Benjamin, wie er den Duschvorhang anstarrte.
    Langsam wandte sich Chris um. Nicht mehr als drei Schritte lagen vor ihm.
    Vermutlich wäre es das Beste gewesen, einfach wegzulaufen. Aber genau das war unmöglich, wenn man wusste, man muss nur einen Vorhang zur Seite ziehen, einen weißen Duschvorhang, auf dem Blutflecken waren, um zu begreifen, was geschehen war.
    »Was ist das?«, hörte er Benjamin fragen.
    Ist er blind, dachte Chris, sieht er nicht, was ich sehe? Riecht er es nicht? Und hat er all die Filme vergessen, in der diese Szene ständig vorkommt?
    Er gab keine Antwort, sondern ging weiter. Der Fliesenboden war nass und rutschig. Er machte einen Bogen um den Schuh, streckte die Hand aus, holte tief Luft und riss den Vorhang zur Seite.

    Chris hatte erwartet, was er sah. Aber das war kein Trost. Und kein Schutz vor dem Ekel, der ihn jetzt würgte. Im Gegenteil.
    Der Mann lag zusammengesunken am Boden der Dusche und rührte sich nicht. Die grauen Haare waren mit Blut verklebt und standen nach oben, als seien sie mit ultrastarkem Haargel in Form gebracht worden.
    Es war Ted Baker und Ted war eindeutig tot.
    »Oh, verfluchte Scheiße!«
    Noch nie hatte Chris erlebt, dass Benjamin wirklich die Fassung verlor. Doch als er sich wieder aufrichtete, hatten seine blauen Augen, die er immer wieder als sein wichtigstes Sinnesorgan bezeichnete, jegliche Farbe verloren. Ein seltsamer Ausdruck lag in ihnen, den Chris nur schwer deuten konnte. Eine Mischung aus Furcht, Entsetzen – und kalte Neugierde.
    »Oh, Scheiße«, wiederholte Benjamin. »Scheiße, was machen wir jetzt?«
    Nichts, hätte Chris am liebsten entgegnet, es ist sowieso zu spät. Dennoch beugte er sich nach vorne, um Teds Leiche näher in Augenschein zu nehmen.
    Chris’ Blick ging nach oben und er erkannte das kreisrunde Loch an der rechten Schläfe – so perfekt wie mit einem Zirkel gezogen.
    Sein Vater hatte es ihm immer und immer wieder gepredigt. Du musst auf die Bilder achten, Chris. Auf die Symbolik. Auf den tief liegenden Sinn menschlichen Handelns. Du musst immer seine Geschichte verstehen, wenn du einen Menschen verstehen willst.
    Ein einziger Schuss.
    Ohne Gefühl.
    Einfach so.
    Damit es vorbei ist.

    Chris hatte sich tatsächlich eingebildet, er hätte die Sache im Griff. Er könnte ans College kommen nach allem, was sein Vater ihm erzählt

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