Der Sturz aus dem Fenster
mögen keinen Sherry. Und eben fällt mir ein, daß ich Ihnen ja Tee versprach und Sie nicht mit Sherry hätte abspeisen sollen. Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?
Ich will sehen, ob ich nicht doch noch Tee für uns auftreiben kann.«
Kate lächelte; er ging hinaus und ließ sie allein – für Kate ein untrügliches Zeichen, daß er ihr vertraute. Sie hatte die Prüfung bestanden.
Ihre Gabe, das Vertrauen von Leuten wie Witherspoon zu gewinnen, war einer ihrer größten Pluspunkte als Ermittlerin, so ungern sie sich dies auch eingestand oder darüber nachdachte. Trotz ihrer offenen Differenzen mit dem Establishment, qua Geburt gehörte sie dazu, und das spürte man.
Witherspoon kam zurück. Während sie auf den Tee warteten, 58
setzten sie das Gespräch fort. Er stellte Kates Sherryglas zur Seite.
»Ich verstand, warum Adams bei den Studenten nicht beliebt war.
Ich verstand es um so besser, als die Gründe dafür ihn mir sympathisch machten. Er scheute vor jeder persönlichen Nähe zurück, hatte Angst, etwas von sich preiszugeben oder Schwäche zu zeigen. Er war – wie ich, zumindest früher – von der ›alten Schule‹: stolz, nach außen hin hart und gefühllos, aber darunter hatte er Angst vor Gefühlen oder davor, jemand zu nah an sich heranzulassen. Das Problem bei Adams war meiner Meinung nach, daß er sich einen Beruf ausgesucht hatte, für den er die falsche Persönlichkeit mitbrachte. In der Industrie oder im Rechtswesen kann man über Fälle und Probleme sprechen und alles Persönliche dabei heraushalten. Ich glaube, in der akademischen Welt ist das nicht so leicht durchzuhalten. Aber das werden Sie besser beurteilen können als ich. Was ich sagen will, ist folgendes: In der Juristerei und im Geschäftsleben kann man sich bis zu einem gewissen Grad den Rat anderer einholen, das ist Usus und kein Zeichen von Schwäche. Aber in der akademischen Welt, zumindest wie Adams sie sah, konnte man keine Kollegen konsultie-ren, ohne Schwäche zuzugeben oder an Macht zu verlieren. Folglich beriet er sich mit niemandem, und da er kein Korrektiv hatte, machte er Fehler. So sehe ich ihn. Im Laufe der Jahre nahm er auch immer seltener an Fachdiskussionen teil, machte daher immer mehr Fehler und wurde sehr einsam. Ich habe den Verdacht, daß diese Einsamkeit die Ursache vieler Torheiten war. Wie die aussahen, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen. Mir gegenüber verhielt er sich stets fair. Ich bewunderte und verehrte ihn, kurz, ich war bereit, seine Autorität anzuerkennen. Ich forderte ihn nicht heraus. Er wußte, daß ich weder ein Kollege noch ein Konkurrent werden würde. Wir kamen gut miteinander aus. Und hier kommt der Tee.«
»Wollen Sie einschenken?« fragte er.
Und Kate schenkte ein. Auf dem Tablett lagen köstliche Sandwiches, hausgemachtes Gebäck und hauchdünn geschnittene Zitronen-scheiben. Alles, wie es sich gehörte. Kate lehnte sich mit ihrem Tee
– Zitrone, kein Zucker – und einem Sandwich zurück.
»Ich finde, Sie haben ihn sehr gut beschrieben«, sagte sie. »Was Sie sagen, paßt genau zu dem Eindruck, den ich von ihm hatte, sowohl von den wenigen persönlichen Begegnungen her wie nach allem, was ich über ihn hörte. Ich kenne einige Menschen wie ihn: ihre Einsamkeit wirkt wie Stärke. Die meisten von ihnen beginnen ihre Karriere mit großer Begabung und viel Lob. Aber irgendwann 59
entwickeln sie eine Abwehrhaltung, sie erstarren und umgeben sich mit einem festen Panzer, der nicht mehr durchlässig ist für die Ansichten oder Ratschläge anderer. Alle, die anderer Meinung sind oder aus anderen Überzeugungen heraus handeln, werden als Bedrohung und Gefahr empfunden. Da Adams jedoch in seiner Jugend den Mut hatte, sich dem Islam, einer völlig fremden Kultur, zuzuwenden, finde ich es um so trauriger, daß er sich später jedem Neuen so rigide verweigerte.«
»Sie sagen es!« stimmte Mr. Witherspoon zu. »Und ich muß Ihnen gestehen: Er tat mir leid – auch wenn ich ihn bewunderte. Bei der einen Gelegenheit zum Beispiel, bei der ich seine Frau traf, war ich überaus höflich zu ihr. Aber ich bin mir sicher, Adams spürte genau daran, wie sonderbar ich seine Ehe fand. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Wir sprachen ausschließlich über den Islam, und ich machte nie den Versuch, ihm persönlich näherzukommen.
Heute wünsche ich mir, ich hätte es getan. Glauben Sie, er beging Selbstmord?«
Kate, der die Pause vor dem »beging Selbstmord« nicht entgangen
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