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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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trug den Sarg, bedeckt mit der Parteifahne, auf den Schultern durch den Staatsfriedhof an schneebedeckten, kitschigen Marmorstatuen und Grabsteinen vorbei. Die zwölf mächtigsten Männer der Partei und des Staates stapften durch den Schnee. Sogar der Teeheilige war in Stiefeln. Vorne hatte A neben dem Eunuchen die Bahre ge-schultert und hinten, nach all den andern, N neben dem Denkmal. Der Schnee fiel in großen Flocken aus einem weißen Himmel. Zwischen den Gräbern und um das ausgehobene Grab scharten sich dicht gedrängt die Funktionäre in langen Mänteln und warmen Pelzmützen. Als man den Sarg zu den Klängen einer durchfrorenen Militärkapelle, welche die Parteihymne spielte, ins Grab hinunterließ, flüsterte das Denkmal: »Teufel, ich werde der nächste sein.« Nun war er nicht der nächste. A war der nächste. N schaute auf. Das Denkmal schlang den Gürtel Gin-gis-Khan des Älteren um A’s Hals. »Bereit?« fragte das Denkmal. »Nur noch drei Züge«, antwortete A, paffte dreimal ruhig vor sich hin, dann legte er die gebogene Dunhill vor sich auf den Tisch. »Bereit«, sagte er. Das Denkmal zog den Gürtel zu. A gab keinen Laut von sich, sein Leib bäumte sich zwar auf, auch ruderten einige Male seine Arme unbestimmt herum, doch schon saß er unbeweglich, den Kopf vom Denkmal nach hinten gezogen, den Mund weit geöffnet: das 51

    Denkmal hatte den Gürtel mit ungeheurer Kraft zusammenge-zogen. A’s Augen wurden starr. Der ältere Gin-gis-Khan ließ aufs neue Wasser, niemanden störte es. »Nieder mit den Feinden im Schoße der Partei, es lebe unser großer Staatsmann A!« rief Marschall H. Das Denkmal lockerte seinen Griff erst nach fünf Minuten, legte den Gürtel Gin-gis-Khan des Älteren zur Dunhill-Pfeife auf den Tisch, ging zu seinem Platz zurück und setzte sich. A saß tot im Sessel vor dem Fenster, das Antlitz zur Decke gekehrt, mit hängenden Armen. Die andern starrten ihn schweigend an. Lord Evergreen zündete sich eine amerikanische Zigarette an, dann eine zweite, dann eine dritte.
    Sie warteten alle etwa eine Viertelstunde.

    Jemand versuchte von außen die Türe zwischen F und H zu öffnen. D erhob sich, ging zu A, betrachtete ihn genau und betastete sein Gesicht. »Der ist tot«, sagte D, »E, gib mir den Schlüssel.« Der Außenhandelsminister gehorchte schweigend, dann öffnete D die Türe. Auf der Schwelle stand der Atomminister O und entschuldigte sich für seine Verspätung. Er habe sich im Datum geirrt. Dann wollte er auf seinen Platz, ließ in der Eile seine Aktentasche fallen, und erst als er sie aufhob, bemerkte O den erdrosselten A, und erstarrte. »Ich bin der neue Vorsitzende«, sagte D und rief durch die offene Türe den Oberst herein. Der Oberst salutierte, verzog keine Miene. D
    befahl ihm, A wegzuschaffen. Der Oberst kam mit zwei Soldaten zurück, und der Sessel war wieder leer. D schloß die Türe ab. Alle hatten sich erhoben. »Die Sitzung des Politischen Sekretariats geht weiter«, sagte D, »bestimmen wir die neue Sitzordnung.« Er setzte sich auf den Platz A’s. Neben ihn setzten sich B und C. Neben B F und neben C E. Neben F
    setzte sich M. Dann schaute D N an und machte eine einladen-de Geste. Fröstelnd setzte sich N neben E: er war der siebent-mächtigste Mann im Staate geworden. Draußen begann es zu schneien.

    52

    D

    B
    E
    F
    N
    M
    G
    H
    I
    K
    L
    O
    P

    C

53

    Abu Chanifa und
    Anan ben David
    1975
    Bearbeitete Fassung 1978

    Nicht immer kommen die Theologen besser davon. Auch ihre Lehren enthalten Sprengstoff. Auch hier weisen das Judentum und der Islam eine Gemeinsamkeit auf, die im Wesen der Theologie zu liegen scheint. Als Religionen, die auf einer
    ›offenbarten‹ Schrift gründen, begnügen sich beide nicht mit ihren Offenbarungen. Wie die Juden mit dem Talmud die Bibel erweitern, den Pentateuch dialektisch kommentierend, ergänzen die Muslime den Koran mit der mündlichen Überlieferung von Taten und Worten des Propheten, Sunna und Hadith: Als der Abbaside al-Mansur um 760 den Gottesgelehrten Abu Chanifa verhaften läßt, als offizieller Nachfolger des Propheten mit dem großen Korankenner theologisch in einen leidigen Streit geraten, befiehlt er, verärgert über die Theologen, bevor er sich von den täglichen Staatsgeschäften eher widerwillig, doch pflichtbewußt in den Harem zurückzieht, einen Rabbi namens Anan ben David ebenfalls einzukerkern. Niemand wagt al-Mansur zu fragen warum, vielleicht weiß er es selbst nicht. Wahrscheinlich handelt er

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