Der Sucher (German Edition)
»Beinahe hätte mich der Herr der Quallen dort getötet. Doch ein junger Sucher und ein Krakenmensch haben mir geholfen. Diesem Sucher – Tjeri ke Vanamee ist sein Name – verdanke ich auch die Perle.«
Mi‘raela lauschte interessiert. Ein Krakenmensch! Der hatte bestimmt keinen besonderen Wert darauf gelegt, dem Sohn zu helfen. Er musste es für den jungen Sucher getan haben. Sie wurde neugierig, wer er war. Hoffentlich erzählte der Sohn noch etwas mehr darüber.
Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen – sie hörte die Geschichte im Laufe des Abends noch etwa fünfmal in aller Ausführlichkeit. Der Sohn erzählte sie mit wachsender Begeisterung und jedes Mal ein bisschen anders, je nachdem, beim wievielten Krug Polliak er angelangt war. Beim dritten hatte der Krake die Ausmaße eines Dhatlas angenommen.
Noch am selben Abend berichteten ihr die Brüder, dass der Sucher Jederfreund genannt wurde und bei den Halbmenschen im Seenland bekannt und beliebt war. »Vielleicht kommt er mal her, um den Sohn zu besuchen«, sagte Mi‘raela neugierig.
»Wünsch ihm lieber, dass er so schlau ist, es nicht zu tun«, knurrte Cchrnoyo.
Mi‘raela war nicht die einzige, die Spinnenfinger gut kannte.
* * *
Bei Aufgang des zweiten Mondes schlichen wir unbeachtet aus dem Lagerplatz der Karawane und auf den Pfad nach Nehiri, einer großen Siedlung in der Nähe. Langsam beruhigte sich mein Puls, und ich sog die kühle Nachtluft tief in die Lungen. Der Wind war abgeflaut, und das Rauschen des Grases war nur ein Flüstern in dieser Nacht.
Als wir kurz vor Sonnenaufgang rasteten, las ich mir die Botschaft von Joelles Eltern noch einmal durch.
Tjeri, Gildenbruder,
die Fehde war genauso blutig und sinnlos wie alle anderen, es gibt darüber nichts zu erzählen. Warum ich trotzdem antworte – etwas daran kam mir damals seltsam vor. Vor der Fehde erhielten wir Besuch durch einen älteren, wohlhabenden Händler, der ein Boot von uns kaufen wollte. Er blickte Ynea ganz seltsam an. Trotz unserer Vereinbarung kehrte er nie zurück, um das Boot abzuholen. Zwei Monate später kam es dann zu der Fehde, bei der Ynea getötet wurde.
Bitte stellt uns keine weiteren Fragen, tanu, der Schmerz ist zu groß.
Seid gegrüßt, Ciara ke Vanamee
Ich zeigte Joelle und Merwyn die Nachricht, und sie reagierten genauso verblüfft wie ich. »Was mag das zu bedeuten haben?«, fragte Joelle. Immerhin, sie regte sich nicht darüber auf, dass ich ihren Eltern geschrieben hatte. Im Gegenteil. Ich bemerkte, dass sie den letzten Satz immer wieder durchlas. Nein, einfach so vergessen hatten ihre Eltern ihre Schwester nicht, auch wenn sie es vielleicht versucht hatten!
»Ich habe eine Theorie – sie klingt allerdings etwas abenteuerlich«, meinte ich. »Könnte es sein, dass die Fehde nur aus dem einzigen Grund angezettelt worden ist, um Ynea in die Hände zu kriegen?«
Mit offenen Mündern starrten sie mich an. »Das ist eine ganz schön wilde Idee«, meinte Merwyn bewundernd. »Auf so einen Blödsinn muss man erstmal kommen.«
Joelle schwieg eine ganze Weile. Dann meinte sie: »Aber warum? Wofür hätten sie Ynea brauchen sollen? Ein neunjähriges, ganz gewöhnliches Mädchen aus der Wasser-Gilde, nicht mal besonders hübsch und mit keinerlei besonderen Kräften?«
»Ich weiß es nicht«, musste ich zugeben. »Vielleicht finden wir im Tempel einen Anhaltspunkt. Aber vor allem müssen wir rauskriegen, aus welchem Ort die Luft-Leute kamen.«
Verdammt, wenn wir doch einfach hätten fragen können! Aber die Chancen, dass irgendein Luft-Mensch uns freiwillig Auskunft gab, standen miserabel.
Wir wanderten ein paar Stunden, bis wir außer Reichweite der Karawane waren, dann lagerten wir in einer Sackgasse, die es zu diesem Zweck überall gab. Ich gähnte ständig und hätte mich am liebsten sofort in meine Decke gerollt, doch Joelle hatte andere Vorstellungen.
»Komm, wir gehen noch ein bisschen spazieren und schauen uns um«, forderte sie mich auf. Merwyn tat so, als hätte er nichts gehört, und machte sich an seinem Reisebündel zu schaffen.
»Raus? Was genau gibt‘s im Grasmeer noch zu sehen?«, wandte ich belämmert ein. »Außerdem ist es schon dunkel.«
»Ja, und? Bei all diesen Monden am Himmel sehen wir genug ...«
Da kapierte ich endlich, dass sie mit mir reden wollte. Mir wurde ganz seltsam zu Mute.
Wir gingen nicht weit, schlenderten nur ein paar Hundert Schritte den Pfad hinunter. Dann wandte Joelle sich mir zu. »Merwyn und ich
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