Der Sucher (German Edition)
erinnern musste, meine Sachen zu packen. Abwesend nickte ich und steckte die Botschaft schnell ein. Am nächsten Tag würde genug Zeit sein, sie noch ein paar Mal durchzulesen und gründlich darüber nachzudenken.
Der Tempel
Jini war unglücklich, und Mi‘raela machte sich Sorgen. Noch immer war die Regentin ärgerlich, sie behandelte Jini kühl und hatte sie schon seit Tagen nicht mehr rufen lassen. Jini versuchte tapfer, sich nichts daraus zu machen, und fragte Mi‘raela über die Nachtwissler-Jagd und über ihre Kinder im Roten Wald aus.
Kurz darauf hörte Mi‘raela bei einem der geheimen Treffen mit den anderen Halbmenschen, dass der Sohn von Großfrau wieder in der Burg war.
»Sie geben ein Bankett, um seine Rückkehr zu feiern«, höhnte ein junger Iltismensch, der in den Küchen arbeitete und solche Dinge als Erster erfuhr.
Der Sohn , wie er bei den Halbmenschen hieß, war nicht sonderlich beliebt. Das lag an einer alten Geschichte: Jeder in der Burg wusste, womit der Sohn am liebsten seine Zeit verbrachte – er dachte, er könnte in die Zukunft sehen. Deshalb hatte einmal ein junger Iltismensch gewagt, ihn um eine Vorhersage zu bitten. Der Sohn hatte die Pfote des Bruders ergriffen, kurz die Augen geschlossen und gesagt: »Du wirst den Rest deines Lebens als Sklave in der Burg verbringen und durch den Fußtritt eines Dieners sterben. Tut mir Leid. Ehrlich.« Der Iltismensch hatte jeden Lebensmut verloren und aufgehört zu essen. Zehn Sonnenumläufe später war er gestorben.
Mi‘raela war nicht sicher, ob sie den schlaksigen, rothaarigen Dörfling mochte. Sie ahnte allerdings, dass er den Tod des Bruders nicht gewollt hatte. Bösartig war der Sohn nicht. Und damals war er selbst noch sehr jung gewesen. Ihm war bestimmt nicht klar gewesen, was er mit seiner Vorhersage – die er ohne Zweifel ernst gemeint hatte – anrichten würde.
Einige Katzenmenschen hatten beim Bankett zur Rückkehr des Sohnes Dienst. Mi‘raela wurde dazu eingeteilt, den ganzen Abend über um die Tische herum unauffällig Essensreste aufzufegen. Natürlich war es ihr nicht erlaubt, davon zu probieren, und nicht selten ließ einer der Dörflinge aus Missgunst ein besonders leckeres Stück Fleisch fallen. Nur um zu sehen, wie den Halbmenschen vergeblich das Wasser im Mund zusammenlief.
Etwa dreihundert Gäste hatten sich im Großen Saal zusammengefunden. Mit gesenktem Kopf fegte Mi‘raela mit dem Reisigbesen und hielt dabei die Augen nach Jini offen. Immerhin war sie nicht in die Küche zurück verbannt worden, sondern saß an einem der mittleren Tische. Spinnenfinger, Schrillstimme und die anderen beäugten sie hämisch und ignorierten sie dann. Was Jini nichts auszumachen schien. Sie staunte mit offenem Mund über die Pracht des Saals und hatte, nachdem das Bankett begonnen hatte, vor allem Augen für das Essen. Trotzdem vergaß sie nicht, Mi‘raela unauffällig zu begrüßen. Mi‘raela schickte einen aufmunternden Blick zurück.
Großfrau beachtete ihren Sohn kaum, nur einmal schalt sie ihn leise wegen irgendetwas. Sie aß wenig und war sehr blass. Der Sohn dagegen speiste mit beträchtlichem Appetit. Aber er wirkte unruhig, schien auf irgendetwas zu warten. Schließlich, als der Nachtisch serviert wurde – Wolkencreme mit dreierlei Sorten Waldbeeren –, stand er auf und bat laut um Ruhe. Neugierig wandten sich ihm die Gesichter zu.
»Ich habe meiner Mutter ein Geschenk mitgebracht, das ich unter Einsatz meines Lebens für sie gesucht habe«, verkündete er und konnte sich eine strahlende Miene nicht verkneifen. »Es ist ein Juwel, wie es nur im Seenland zu finden ist. Man sagt, dass es Gesundheit und ein langes Leben schenkt. Beides gönne ich meiner Mutter von ganzem Herzen.«
Er nestelte an seiner Tasche herum und zog etwas heraus, ein winziges schwarzes Ding an einem Silberfaden. »Eine Schwarze Perle!«
Ein Murmeln und Raunen ging durch den Saal. Mi‘raela sah ein paar skeptische Blicke und viele beeindruckte. Spinnenfinger und Steinherz lächelten höflich, aber Mi‘raela wusste, dass sie in ihren Kammern dreinschauen würden, als hätten sie Essigwasser getrunken.
Großfrau ließ sich zu einem leichten Lächeln herab, als ihr Sohn vor ihr niederkniete, dann wieder aufstand und ihr die Perle um den Hals legte. »Hin und wieder schaffst du es tatsächlich, mich zu überraschen«, sagte sie trocken. »Ich danke dir. Wo hast du sie gefunden?«
»Beim Schwarzen Fluss in Vanamee«, berichtete der Sohn stolz.
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