Der Sucher (German Edition)
zusammen. Um mich davon abzulenken, dass ich sie viel lieber im Arm gehalten hätte, als hier Wache zu stehen, wandte ich die Gedanken wieder der geheimnisvollen silbernen Schale zu. Eigentlich hätte ich schleunigst nach Kowanda weiterreisen müssen. Indem ich Joelle half, lief ich Gefahr, die Spur dort wieder zu verlieren. Hoffentlich konnte ich noch daran anknüpfen. Immerhin waren wir durch die Karawane schneller vorangekommen als ursprünglich gedacht. Aber dieser Cousin von Wynns Familie hatte die Schale schon eine ganze Weile, hoffentlich besaß er sie überhaupt noch ...
Ich brütete so düster vor mich hin, dass ich beinahe das leise Geräusch überhört hätte, das aus dem Hauptraum des Tempels klang. Was konnte das sein, um diese Zeit, mitten in der Nacht? Lautlos stand ich auf, glitt zur Tür und spähte durch den schmalen Spalt hinaus, den wir offen gelassen hatten.
Sechs Menschen hatten schweigend, mit leisen Schritten den nachtdunklen Tempel betreten. Mein Puls beschleunigte sich. Was ging hier vor? Da meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich erkennen, dass sie sich so im Raum verteilten, dass sie einen Kreis bildeten. Wie auf ein unhörbares Kommando hin wandten sie sich um und entzündeten sechs Fackeln an der Außenwand. Sie erhellten die Neuankömmlinge so, dass ich von ihnen nur die Silhouetten sah, nicht die Gesichter. Ein eigenartiger, scharfer Kräuterduft breitete sich aus, von dem mir schwindelig wurde.
Hastig entfernte ich mich von der Tür, rüttelte Joelle und Merwyn wach und bedeutete ihnen, leise zu sein. Zu dritt spähten wir mehr schlecht als recht durch den Türspalt und beobachteten, was geschah. Zwei dunkle Körper wurden hereingetragen. Mir sträubten sich die Härchen im Nacken. Ich strengte meine Augen an, aber es war schwer zu erkennen, ob es Tote waren, oder ob sie noch lebten. Gefesselt waren sie nicht, das hätte ich gesehen. Die Körper wurden dicht nebeneinander gelegt und so angeordnet, dass einer ihrer Arme ausgestreckt auf der Schulter des jeweils anderen lag.
Zwei Gestalten, anders gekleidet als die anderen, beugten sich über die Körper. Totenpriester , fuhr es mir durch den Kopf. Aber was genau machen sie da? Sah so aus, als würden sie ihnen einen glänzenden Gegenstand auf die Stirn und aufs Herz legen. Eine Art gravierte Scheibe aus Gold. Fasziniert öffnete ich die Tür ein winziges Stück weiter, um mehr erkennen zu können.
Die sechs Menschen, die den Kreis bildeten, begannen, eine Gildenformel zu murmeln. Gilias Gnade, vielleicht versuchten sie, den Hauch des Lebens in Tote zurückzurufen! Fiel das nicht eigentlich auch in den Bereich von Wind und Luft? Wenn sie wirklich das versuchten, war es kein Wunder, dass sie es geheim hielten. Alle vier Gilden missbilligen Experimente an der Schwelle zwischen Leben und Tod.
Ich merkte, dass Merwyn nach Luft rang. Beunruhigt wandte ich mich nach ihm um. O nein, sah so aus, als müsste er gleich husten! Oder sich übergeben. Jedenfalls konnte ich selbst im Halbdunkel erkennen, dass er sich beide Hände auf den Mund presste. Joelle packte ihn am Arm, sah ihm besorgt ins Gesicht
Schlagartig wurde mir klar, in was für einer Gefahr wir uns befanden. Wenn Merwyn hustete, würden uns diese seltsamen Gesellen dort hören – und was sie dann mit uns anstellen würden, wusste nur Erin allein.
Gefährliche Gastgeber
Der Plan der Schwarzen Kutten, dass die Regentin noch vor Ankündigung ihrer Nachfolge sterben sollte, ging nicht auf. Seit sie die Schwarze Perle trug, zeigte sie sich wieder öfter in der Burg, wirkte nicht mehr so blass und schwach. Mi‘raela war erstaunt. Das Ding sah aus wie der Köttel eines Nachtwisslers, aber es schien zu helfen.
Es waren nur noch wenige Tage Zeit, bis die Nachfolgerin vorgestellt werden sollte. Mi‘raela befürchtete, dass es nicht Jini sein würde, dass die letzte Intrige sie die Gunst von Großfrau gekostet hätte. In den letzten Tagen hatten die Brüder und Schwestern auch zwei andere Mädchen aus Erd- und Luft-Gilde in den Gemächern der Regentin gesehen. Wenigstens nicht Hetta, tröstete sich Mi‘raela, aber sie ahnte, dass Spinnenfingers Leute einen Weg finden würden, auch diese neuen Konkurrentinnen zu stürzen.
Doch dann kam bei den nächtlichen Versammlungen ein Krötenmensch ganz aufgeregt zum Treffpunkt. Er sprudelte einen wirren Schwall von Worten hervor, und erst Cchrnoyo gelang es, ihn soweit zu beruhigen, dass man etwas verstehen konnte.
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