Der suendige Engel
Stadtmauer lag.
Die Vampirwesen beachteten sie nicht. Ihre Augen waren stumpf, und ihre Bewegungen glichen denen von Robotern. Lilith inspizierte einige der Häuser. Auch in den Wohnungen befanden sich Vampire, aber sie standen nutzlos herum oder gingen alten, ebenso nutzlos gewordenen Tätigkeiten nach, ohne Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen.
Hier schien sich tatsächlich eine Art Familienleben etabliert zu haben, wie Lilith verblüfft erkannte. Zwar konnte sie nirgendwo Kinder entdecken, aber es gab einige Jugendliche, besonders Mädchen, und viele der Vampirwesen, die in den Häusern ihr einstiges Leben routinehaft nachzelebrierten, hatten sich zu Kleinfamilien zusammengeschlossen. So als hätten sie sich mehr an menschlichen Sozialformen denn an vampirischen Sitten orientiert.
Lilith kannte bislang nur Sippen mit zwanzig bis dreißig Vampiren, die sich um ein Oberhaupt geschart hatten. In dieser Stadt schien sich infolge ihrer Abgelegenheit eine andere Art von Gemeinschaft gebildet zu haben.
Wie auch immer - die vermeintliche Idylle war zerstört. Etwas war mit den Vampiren geschehen, hatte sie sterben lassen, in letzter Konsequenz aber doch nicht getötet .
Lilith hatte im ersten Moment an den Seuchenimpuls gedacht, der die Vampirrasse dezimierte. Die meisten dieser grauenhaften Wesen wiesen zumindest die äußeren Merkmale der weltumspannenden Seuche auf.
Aber warum war dann die Seuche nicht weiter fortgeschritten?
Weshalb sah es so aus, als wäre sie im letzten Moment verebbt und hätte diese Vampire ihrem grausamen Schicksal überlassen, gefangen zwischen unheiligem Leben und endgültigem Tod?
Offenbar litten diese Wesen auch nicht den geringsten Blutdurst. Lilith fand keinen Hinweis darauf, daß sie sich ernährten. Auch Menschen, von denen sie hätten trinken können, gab es nirgendwo.
Lilith wanderte weiter durch die Gassen, sich nur hastig verbergend, wenn sie die Flügelschläge eines der dämonischen Wesen vernahm, die nach ihr suchten. Sie schlug die Richtung zur Stadtmauer ein. Je früher sie von diesem Ort des Grauens verschwand, desto besser. Und der Weg hinaus führte über die Stadtmauer aus schwarzem Basaltstein, die sie aus der Luft gesehen hatte.
Wie vermutet standen Wachtposten hier. Aber es waren keine der geflügelten Monstren, sondern Vampire, die ebenso apathisch wirkten wie alle anderen und Lilith nicht beachteten.
Sie erklomm eine hölzerne Treppen, die an der Mauer hochführte. Niemand hielt sie auf. Dann stand sie auf den obersten Zinnen der steinernen Brüstung. Im ersten Moment sah sie jenseits der Mauer nur Dunkelheit - die gleiche Art von absoluter Finsternis, die auch über der Stadt lag. Kein Mond. Keine Sterne. Nichts.
Ihre Augen versuchten angestrengt, die Finsternis zu durchdringen. Und plötzlich glaubte sie tatsächlich etwas zu erkennen: riesige Schatten körperloser Gestalten, die ihr ein bizarres Schauspiel vorgaukelten. Sie strengte ihre Augen weiter an und versuchte das Schattenspiel zu begreifen. Mit jeder Sekunde konnte sie es deutlicher erkennen. Es erinnerte sie an Szenen aus Dantes »Göttlicher Komödie«:
Es war das Grauen selbst. Das Inferno. Die schattenhaften Gestalten wanden sich in unvorstellbarer Pein, schrien lautlos ihre Qual, die sich als Sturzbäche von Schwarz um ihre Leiber wanden, sie einschnürten und verformten. Ein normaler Mensch wäre wahrscheinlich in Irrsinn verfallen, hätte er sie erblickt. Selbst Lilith mußte ih-ren Blick abwenden.
Dennoch. Es könnte auch nur eine Vision sein. Etwas, das mich davon abhalten will, aus dieser Stadt zu verschwinden.
Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis spürte sie einen warmen Hauch, der sie von jenseits der Mauern erreichte. So, als wollten die Schemen dort ihre Gedanken Lügen strafen.
Es kam auf einen Versuch an. Lilith transformierte abermals in ihre Fledermausgestalt, stieß sich von den Zinnen ab und erhob sich in die Nacht.
Mit jedem Flügelschlag wurde die Luft heißer.
Wenige Meter genügten, und die Hitze war kaum mehr auszuhalten.
Und noch ein kleines Stück weiter glaubte sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Kreischend kehrte Lilith um und flog zurück auf die Zinnen der Stadtmauer. Ihr ganzer Körper glühte, als sie sich in ihre humanoide Gestalt zurückverwandelte, und es dauerte Minuten, bis die Schmerzen abklangen.
Ihre Augen hatten ihr nichts vorgegaukelt. Dort draußen herrschte das Inferno. Eine lebensfeindliche Welt jenseits aller Vorstellungskraft, die eine Flucht
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