Der süße Hauch von Gefahr
Jahrzehnten nichts zwischen ihnen geändert.
Seine Stimme verriet seine Erbitterung, als er sagte:
»Und jetzt kannst du mir vielleicht verraten, was so wichtig ist, dass wir uns zu dieser Stunde mit solcher Geheimniskrämerei treffen müssen.« Seine Augen wurden schmal.
»Du hast dich nicht im Glücksspiel versucht, oder? Und steckst jetzt bis zum Hals in Schulden?«
Beleidigt starrte sie ihn an.
»Selbstverständlich nicht. Ich weiß, dass manche Damen der guten Gesellschaft weit mehr riskieren, als sie sollten, aber ich gehöre nicht zu ihnen.«
Er zuckte die Achseln.
»Warum dann diese Verabredung?«
Sie senkte den Blick und starrte auf die zerkratzte Tischplatte. Alle Gründe, weshalb das hier eine unausgegorene Idee war, stürmten auf sie ein. Aber sie schob sie beiseite. In der Zeit, seit sie die Nachricht an ihn geschrieben hatte, hatte sich nichts geändert, und ob es nun einfältig oder unüberlegt war, ihr blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen, so gut sie eben konnte.
Sie atmete tief durch und ordnete ihre Gedanken. Die Vorstellung schien ihr unglaublich, dass sie und Asher vor gerade mal einer guten Woche beinahe in Ormsbys Bibliothek in London entdeckt worden waren. Selbst abgelenkt mit dem ganzen Packen und allem anderen, was damit einherging, ein Haus zu schließen, bevor sie die Reise nach Kent antreten konnten, hatte sie das Problem von Thalias Briefen ständig beschäftigt. Am schlimmsten war vermutlich die Fahrt von London nach Kirkwood, auf der sie zu dritt in der engen Reisekutsche gewissermaßen eingesperrt waren. Thalia, deren liebliches Gesicht zu einer Maske der Verzweiflung erstarrt war, hatte die Reise damit verbracht, ihre Tränen zu unterdrücken, was ihr nur unzureichend gelungen war. Mr Kirkwood saß da, starrte betrübt aus dem Fenster und seufzte von Zeit zu Zeit. Da sie wusste, dass es witzlos war, hatte Juliana sich die Mühe gespart, den Versuch zu unternehmen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. So hatte sie die Stunden dafür genutzt, nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma zu suchen. Einen Ausweg, der nicht darin bestand, dass Thalia ruiniert wurde oder gegen ihren Willen mit diesem verflixten Ormsby verheiratet wurde. Als sie am späten Freitagnachmittag dann tatsächlich auf Kirkwood Manor eintrafen, war sie trotz einiger reichlich gewagter weiterer Möglichkeiten zu dem Schluss gekommen, dass ihre ursprüngliche Idee doch das Beste war. Sie musste Ormsby die Briefe entwenden.
Es hatte in all dem Durcheinander einen echten Glücksfall gegeben, überlegte sie mit leiser Reue, obwohl Thalia es sicher nicht so sehen würde. Ihre Schwester hatte sich mit den Masern angesteckt. Sicher, auch ihre erste Reaktion war Entsetzen gewesen, als Thalia am Samstagmorgen mit dem typischen Ausschlag erwacht war. Aber letztendlich nahm Juliana auch diesen jüngsten Rückschlag gelassen, ja, sie hatte rasch erkannt, dass es in Wahrheit ein Segen war. Thalias Zustand machte eine Hausgesellschaft unmöglich und lieferte der Familie den perfekten Vorwand, mögliche Gäste vor der Anreise zu warnen und die Gesellschaft auf die erste Augustwoche zu verschieben. Selbst ein So-gut-wie-Verlobter konnte damit ferngehalten werden; also hatte Juliana lächelnd die Nachricht an Caswell verfasst, in der sie ihm die Lage erklärte. Thalia war es peinlich, einer Kinderkrankheit erlegen zu sein, aber wie Juliana hatte sie begriffen, dass es ihr eine willkommene Pause verschaffte. Thalia würde ihren Liebsten erst wiedersehen können, wenn der letzte Fleck verschwunden war und sie ihr gewohntes Aussehen zurückerlangt hatte, das hieß aber auf der anderen Seite auch, dass sie Ormsby nicht sehen musste. Und, dachte Juliana grimmig, Thalias Krankheit verschaffte ihnen Handlungsspielraum und Zeit, um die dummen Briefe zu stehlen. Was sie zu dem Treffen mit Asher zurückbrachte.
Sie wäre nicht auf den Gedanken gekommen, sich Ashers Hilfe zu versichern, wenn nicht das seltsame Treffen in Ormsbys Bibliothek gewesen wäre. Er hatte ebenso wenig wie sie entdeckt werden wollen, was hieß, dass seine Gründe dafür, sich hinter den Vorhängen zu verstecken, alles andere als edel gewesen sein mussten. Er hatte etwas im Schilde geführt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ormsby ihn zum Ball eingeladen hatte. Ormsby verabscheute Asher. Aber selbst wenn er ihn eingeladen hätte, was hatte Asher in der dunklen Bibliothek getrieben?
Ihr stockte der Atem, als ihr die einzig einleuchtende Erklärung
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