Der süße Hauch von Gefahr
Gedanken riss. Geistesgegenwärtig beugte sie sich vor und steckte die Briefe unter ihr Kopfkissen.
Das junge Hausmädchen, erstaunt, ihre Herrin wach und neben dem Bett stehend anzutreffen, erkundigte sich besorgt:
»Mrs Greeley, ich hätte nicht gedacht, dass Sie bereits aufgestanden sind. Ist alles in Ordnung?«
Juliana lächelte und setzte sich auf die Bettkante, legte eine Hand auf ihr Kopfkissen und erklärte in möglichst unbeschwertem Ton:
»Alles ist bestens, Flora. Es ist nur ein so herrlicher Morgen, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, jetzt schon das Bett zu verlassen.«
Flora lächelte und stellte ihr Tablett auf ein Tischchen in der Nähe.
»Ja, es ist ein wunderschöner Tag, nicht wahr?« Mit fröhlicher Miene schickte sie sich an, wieder zu gehen, fragte aber noch:
»Soll ich Ihnen Wasser für ein Bad aufs Zimmer bringen lassen?«
»Ja, danke.«
Nachdem Flora fort war, bediente Juliana sich mit einer Tasse Tee und knabberte an einem kleinen Eckchen Toast, ohne das Kopfkissen, unter dem die Briefe versteckt waren, aus den Augen zu lassen. Sie würde keine ruhige Minute haben, bis sie nicht zerstört waren, aber es sah ganz so aus, als ob sie ein paar Stunden auf das Vergnügen würde warten müssen. Und einen besseren Platz finden, um sie bis dorthin sicher zu verwahren.
Sie hatte nie einen Hang zur Geheimniskrämerei gehabt und daher wenig Erfahrung mit Verstecken; schließlich schob sie die Blätter einfach möglichst weit unter die Matratze. Das war zwar nicht unbedingt sonderlich einfallsreich, überlegte sie unzufrieden, aber dort würden sie vermutlich nicht zufällig von einem Dienstboten während der kurzen Zeitspanne entdeckt werden, die sie dort bleiben mussten.
Für Juliana verstrich die Zeit elend langsam, aber schließlich hatte sie gebadet, war angekleidet und frisiert … Und es war endlich auch so spät, dass Thalia und ihr Vater wach sein sollten und bereit, den Tag zu beginnen.
Juliana kam sich ein wenig albern vor, als sie die Briefe aus ihrem Versteck holte, sie sorgfältig faltete und dann vorsichtig in das Oberteil ihres Kleides schob. Das lavendelfarben gemusterte Musselinkleid, das sie trug, hatte einen züchtigen mit Spitze besetzten Ausschnitt, und nachdem sie ihre Erscheinung im großen Spiegel betrachtet und sich vergewissert hatte, dass von den Briefen nichts zu sehen war, verließ sie ihr Schlafzimmer.
Thalia war noch an das Krankenzimmer gefesselt, und Juliana wusste, dass ihr Vater gewöhnlich morgens vor dem Frühstück nach seiner jüngsten Tochter sah. Daher eilte sie über den Flur und hoffte, den richtigen Zeitpunkt gewählt zu haben.
Das hatte sie. Sie betrat Thalias Zimmer und traf ihre Schwester in einem schlichten hellblauen Musselinkleid auf einem Stuhl am Fenster an, von dem aus man in den Garten auf der Rückseite des Hauses schaute. Mr Kirkwood hatte auf dem anderen Stuhl Platz genommen. Das Tablett mit den Überresten eines Frühstücks stand noch auf dem Tisch zwischen ihnen, beide sahen bei Julianas Eintreten auf.
Mit einem gezwungenen Lächeln erhob Mr Kirkwood sich und sagte:
»Guten Morgen, meine Liebe. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Möchtest du eine Tasse Tee? Ich glaube, wir haben noch etwas für dich übrig gelassen.«
Juliana schüttelte den Kopf und musterte die beiden. Obwohl Thalia an diesem Morgen einen frischeren Eindruck machte und ihre Gesichtsfarbe nicht länger so fahl war, zudem der Ausschlag, den die Masern verursacht hatten, allmählich verblasste, zeugten dennoch die Schatten unter ihren hübschen blauen Augen von einer schlaflosen Nacht. Mr Kirkwood sah kaum besser aus; um seine Augen und den Mund hatten sich neue Falten gebildet, und er wirkte insgesamt mehr wie ein Mann, der schon länger nicht mehr in den Genuss erholsamer Nachtruhe gekommen war. Die Spuren dieser vergangenen Tage voller Sorgen zeigten sie wohl alle, die schwere Zeit hatte sie alle mitgenommen. Zwar hatten sie versucht, eine normale Fassade aufrechtzuerhalten, aber Juliana wusste, wie zerbrechlich sie war. Und jetzt war sie ja auch nicht länger nötig.
Unfähig, ihre Neuigkeiten auch nur eine Sekunde länger für sich zu behalten, fasste Juliana in ihren Ausschnitt und zog die Briefe heraus. Sie legte sie vor Thalia auf den Tisch und sagte:
»Ich möchte, dass du nachsiehst, ob dies hier wirklich die Briefe sind, die du Ormsby geschrieben hast, wie ich glaube.«
Thalia schnappte nach Luft und starrte die zusammengefalteten
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