Der sueße Kuss der Luege
vermeide ich jeden Blickkontakt und habe trotzdem den Eindruck, dass mich alle anstarren. Da höre ich, wie das kleine Mädchen mir gegenüber ihrer Mutter zuflüstert: »This lady doesn’t look very happy.«
Ihrer Mutter ist das peinlich und sie macht »Schschsch«. Aber die Kleine wiederholt es jetzt erst recht und noch viel lauter. Und weil es so verdammt wahr ist, merke ich, wie mir Tränen in die Augen schießen.
Ida, Ida, Ida. Ich wische die Tränen weg und versuche, mich zu beruhigen. Ich muss fit sein, darf jetzt nicht schlappmachen. Ich ringe mir ein Lächeln ab, aber das scheint die Kleine nicht zu überzeugen. Ihre Mutter versucht, sie abzulenken, und ich schaue aus dem Fenster. Not happy ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Ein Blitz in weiter Ferne reißt mich aus meinen destruktiven Gedanken und richtet meine Aufmerksamkeit auf den Himmel da draußen. Es sieht nach Gewitter aus.
Ida hasst Gewitter, sie machen ihr Angst. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie sich fühlen muss. Vielleicht ist sie ganz allein eingesperrt oder man hat ihr die Augen verbunden, damit sie die Kerle nicht sehen kann. Was, wenn sie dazu noch gefesselt ist? Und dann kommt obendrein noch ein Gewitter.
Welcher Mensch bringt so etwas fertig? Sie ist doch erst drei Jahre alt!
Mein Handy klingelt und mein selbstgerechter Zorn weicht sofort totaler Anspannung.
»Nächste Station steigst du aus.«
»Am Südbahnhof? Ich dachte…«
Aufgelegt.
Ich springe vom Sitz auf und stelle mich an die Tür.
»Und jetzt?«, sage ich in das Mikro.
»Ruhig bleiben. Leider gibt es am Südbahnhof viele Möglichkeiten…«, ertönt Frau Rolfs.
»Ist denn überhaupt noch irgendein Beamter in meiner Nähe?«
»Seien Sie unbesorgt.«
Ich steige aus und lasse mich auf die nächste Bank am Bahnsteig sinken. Warum quält der Mann mich so? Warum dauert das so lange? Und was passiert mit Ida in all der Zeit?
Es klingelt wieder. »Weiter zum Schweizer Platz.« Das ist alles.
Ich schleppe mich zu den Tafeln mit den Informationen und schaue auf dem Plan nach, da höre ich schon Frau Rolfs. »Sie müssen mit der U1 weiter.«
Ich nehme mich zusammen. Ich muss mich beeilen, jede Minute zählt für Ida. Ich vergesse das Gewicht auf meinem Rücken und renne so schnell wie möglich zur U1, die tatsächlich auch sofort kommt. Weil ich schon an der nächsten Station rausmuss, bleibe ich direkt an der Tür stehen.
Am Schweizer Platz angekommen meldet sich der Entführer wieder. Er lässt mich zu Fuß die Schweizer Straße Richtung Main weitergehen. Jeder Schritt kommt mir wie ein Kilometer vor. Ich habe Gegenwind und ich höre leisen Donner. Einmal habe ich den Eindruck, dass ein Hubschrauber über mir fliegt, aber ich schaue nicht hoch, konzentriere mich auf meine Schritte. Nach einer Ewigkeit, in der ich trotz des Verkehrs und der Menschen um mich herum das Gefühl habe, dass ich ganz allein auf der Welt bin, höre ich endlich wieder Frau Rolfs.
»Er will zum Holbeinsteg!«, ruft sie. »Jetzt ist alles klar!« Der Holbeinsteg ist eine schmale, vielleicht zweihundert Meter lange Hängebrücke nur für Fußgänger und Radfahrer.
Die Kommissarin hat recht. Jetzt dämmert mir auch, warum das Geld wasserdicht verpackt werden sollte. Bestimmt muss ich das Geld von der Brücke in ein Boot werfen, mit dem der Kidnapper dann davonbraust, so etwas habe ich schon mal im Kino gesehen. Allein bei dieser Vorstellung wird mir total elend. Wenn Idas Leben davon abhängt, dass ich das Geld gezielt werfen muss, ist das ihr Todesurteil. Ich konnte noch nie besonders gut werfen, der Wind hat weiter aufgefrischt und es sieht so aus, als würde das Gewitter gleich losbrechen. Ich höre, wie die Rolfs Verstärkung durch die Wasserschutzpolizei anfordert.
»Aber das sieht er doch sofort«, protestiere ich. »Was passiert dann mit Ida? Oder haben die auch zivile Boote?«
Keine Antwort.
»Hallooo«, schreie ich, »wir wissen doch nicht, wo Ida ist, wir dürfen nichts riskieren!«
Ich biege am Mainufer nach links ab, und als ich die Hängebrücke endlich vor mir sehe, ruft der Kidnapper wieder an und dirigiert mich, wie Frau Rolfs vermutet hat, auf die Brücke, die trotz des ständig schlechter werdenden Wetters voller Menschen ist. Vermutlich wollen sie ins Holbeins, das Café im Städel.
Ich schaue auf den Main, aber da entdecke ich weit und breit nichts außer einem rostigen alten Schleppkahn, der sich von flussabwärts langsam durch den schlammig braunen Main
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