Der sueße Kuss der Luege
Pflegevater wieder zu, diesmal in den Solarplexus, Jo krümmte sich nach vorne zusammen und fiel auf die Knie. Blut tropfte aus seiner Nase.
»Anzeigen willst du mich also?«
Der Vater trat mit dem Fuß in die Rippen des am Boden liegenden Jungen, aber Jo konnte es nicht lassen. »Ich habe die Kamera im Bad gesehen. Dafür wirst du bezahlen!«, keuchte er, während er verzweifelt versuchte, aus der Reichweite seines Pflegevaters wegzukriechen.
Der Vater zögerte einen Moment, weil sein Blick von den Filmen im Computer angezogen wurde.
»Ich habe schon eine Mail ans Jugendamt geschickt, du bist erledigt!«, brachte Jo hervor.
Sein Pflegevater sah zu ihm, zum Computer, dann griff er nach einem Werkzeug auf der Werkbank. Trotz des Blutes, das Jo über die Augen strömte, erkannte er, dass es ein mächtiger Schraubenzieher war.
»Du siehst Dinge, die du nicht sehen solltest, mein Sohn, aber was will man von solchen Bastarden wie dir auch schon erwarten?«
Jo entfuhr ein panischer Laut, aber da hatte der Pflegevater ihn schon gepackt und holte mit der anderen Hand aus, um ihm den Schraubenzieher in den Körper zu rammen, und für den Bruchteil einer Sekunde fragte Jo sich, wie er diesen Jungsunfall im Krankenhaus dem Arzt erklären würde. Doch dann wurde ihm klar, dass es keinen Arzt geben würde, denn er würde das hier nicht überleben. Sein Herz pumpte Adrenalin durch seinen Körper, verwandelte die Todesangst in brennende Energie für seine Muskeln, die ihm die Kraft gab, die Zähne in den Arm zu schlagen, der ihn gepackt hielt. Der salzig metallische Geschmack von Fleisch und Blut breitete sich in Jos Mund aus, überspülte die Panik für einen Moment mit Euphorie, denn sein Pflegevater geriet ins Schwanken und der Schraubenzieher zischte haarscharf an Jos Schulter vorbei und fiel zu Boden.
Jo spürte, wie er keine Luft mehr bekam, die Nase war von dem Schlag zu angeschwollen, er musste den Griff seiner Zähne lockern. Prompt packte sein Pflegevater wieder zu und versuchte mit der anderen Hand, den Schraubenzieher zurückzubekommen.
»Nein«, stöhnte Jo, der hektisch Luft einsaugte, die nicht in seinen Lungen ankommen wollte. Er röchelte, hechelte, rang nach Atem. Eine neue Beißattacke kam nicht infrage, er musste ihn anders stoppen. »Nicht!« Er konnte sich selbst kaum verstehen, weil ihm auch dazu der Sauerstoff fehlte. »Ich werde es keinem sagen, ich werde den Mund halten, es tut mir leid«, wimmerte er.
Aber der Mann vor ihm schäumte vor Wut. Da, er hatte den Schraubenzieher gefunden und holte wieder weit aus.
Jo schloss die Augen. Es war vorbei, er hatte versagt, genau wie bei der Prinzessin, und er wünschte sich nur, dass es schnell ging.
Da ertönte dumpfes Krachen. Jo riss die Augen auf und entdeckte Jan, der hinter dem Pflegevater stand. Er umklammerte ein offensichtlich neues Ruderblatt mit beiden Händen und schlug voller Wucht auf den Kopf ihres Pflegevaters ein.
Wieder und wieder.
Er hörte nicht auf damit, auch als der Mann schon längst leblos am Boden lag.
Jo sah ihm wie gelähmt dabei zu. Er konnte sich nicht rühren und er konnte nichts sagen, nicht mal schreien, konnte einfach nur zusehen, die ganze Zeit in dem furchtbaren Wissen, dass es vorbei war, dass sein Leben nie wieder so sein würde wie früher. Das Leben mit der Prinzessin schien für immer und ewig außer Reichweite.
Tränen rannen über sein Gesicht. »Genug«, brachte er schließlich hervor und kroch zu seinem Pflegebruder hinüber, um ihn am Bein zu packen. »Jan, hör auf! Hör auf! Ich glaub, er ist tot.«
»Das reicht noch nicht!«
Aber Jan ließ trotzdem von der leblosen Gestalt ab und ging schwer atmend neben Jo in die Knie. »Was hat das Schwein dir angetan? Was war hier los?« Er legte den Arm um Jo und war so fürsorglich, wie Jo das nur bei seiner richtigen Mutter erlebt hatte. Doch er hatte eben gesehen, wozu sein Stiefbruder fähig gewesen war. Das alles hier war krank, kranker, als seine Mutter jemals gewesen war. Er schluchzte auf. Jan drückte ihn unbeholfen an sich und murmelte tröstende Worte wie »Schsch, alles wird gut, du wirst schon sehen, jetzt kann er dir nichts mehr tun und alles, alles wird wieder gut.«.
Aber das war natürlich eine Lüge und Jo wusste es, nichts wurde wieder gut. Nie wieder.
Lu am Donnerstag, dem 7. Juni 2012, Fronleichnam, 20:00 Uhr
Er ist tot. Er ist direkt vor meinen Augen gestorben.
Das SEK hat auf ihn geschossen, nachdem sie begriffen hatten, wer da im
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