Der sueße Kuss der Luege
finden. Das spüre ich. Ich weiß es einfach.« Plötzlich lässt er mich los und starrt erschrocken auf meine Brust.
»Was ist das denn?«
Ich schaue an mir herunter. Dunkle Blutflecke breiten sich auf meinem türkisfarbenen T-Shirt aus.
Sebastian springt auf. »Ich bringe dich zurück ins Krankenhaus! Und es ist mir egal, was du dazu sagst.«
Ich merke, dass ich am ganzen Körper zittere, all das hat mir noch mehr vor Augen geführt, wie beschissen hilflos ich bin. »Ich muss hierbleiben, falls… er… anruft.«
»Wenn du mich fragst, ruft keiner mehr an, weil die Bullen den einzigen Kidnapper umgenietet haben, der wusste, wo Ida steckt.« Jetzt klingt auch aus Sebastians Stimme die Verzweiflung. »Wenn es noch jemanden gäbe, wenn Diego wirklich dahintersteckt, dann hätte der sich längst mit einem neuen Übergabeort gemeldet. Das wissen die Rolfs und der Hinze haargenau, die wollen es nur nicht zugeben.«
Ein Wimmern dringt aus meinem Mund. Hat er eigentlich eine Ahnung, was er da Grauenhaftes sagt? Wenn Jan wirklich ein Einzeltäter war, dann sitzt Ida vielleicht irgendwo allein und hilflos gefesselt in ihrem Versteck, ohne etwas zu essen oder zu trinken.
Sebastian greift mir unter die Arme. »Ich hole ein Taxi und bringe dich ins Krankenhaus«, sagt er entschlossen. Er führt mich nach unten, wo Kriminaldirektorin Rolfs uns beide mustert, dann beißt sie sich auf die Lippen und weist einen Beamten an, uns zurück ins Krankenhaus zu fahren und bei mir zu bleiben.
Mir ist mittlerweile ziemlich schwindelig und ich schaffe es nicht zu protestieren.
Immerhin kann ich der Rolfs noch das Versprechen abnehmen, mich anzurufen, wenn sich etwas tut.
Er am Mittwoch, dem 8. September 2010
»Was machen Sie in meiner Wohnung? Wie sind Sie hier reingekommen?« Sie starrte ihn an, als hätte sich ein lebender Hundehaufen auf ihren Teppich verirrt.
Er reichte ihr einen großen Strauß roter Rosen, so wie er sich das während seines letzten Jahres im Kinder-KZ immer ausgemalt hatte. Kinder-KZ, das war sein Name für die jugendpsychiatrische Verwahrungsstelle, in die man ihn gestopft hatte.
Die Sache mit seinem Pflegevater war zwar als Nothilfe für Jo durchgegangen, weil er aber immer weiter zugeschlagen hatte, auch, als es längst nicht mehr nötig war, hatten die Psycho-Gutachter angefangen, in seiner Vergangenheit zu graben, und dann, trotz Jos Aussage, behauptet, sein Gewaltpotenzial mache ihn zu einer Gefährdung der Menschheit. Es sei nur zu seinem eigenen Besten, dass er ins Kinder-KZ käme, hatten sie gesagt. Vom ersten Moment an hatte er es dort gehasst, mehr als alles andere zuvor, und vor lauter Wut hatte er sehr viel Zeit verschwendet, bevor er endlich kapierte, wie er da wieder rauskommen konnte. Jo hätte sicher blitzartig begriffen, wie das läuft. Die ersten beiden Psychologen hatten ihn schnell aufgegeben, weil er nicht bereit gewesen war, sich von solchen Labersäcken manipulieren zu lassen. Ihre sich ständig wiederholenden Fragen nach seiner elenden Schwester. Ihr geheucheltes Entsetzen darüber, dass er von ihr nur als Ansammlung von Zellhaufen redete. Dafür hatten sie eine Menge Namen, aber all das scherte ihn nicht. Er war einfach hundert Prozent sicher, dass jeder in seiner Lage das Gleiche gedacht hätte, und schließlich hatte er es ja dann nicht getan. Okay, er hatte es gewollt, aber am Ende hatte er es nicht gekonnt. Doch niemand glaubte ihm. Niemand. Und dann das Gerede über den Tod seiner Eltern und den Totschlag an seinem Pflegevater. Totschlag! Die Typen wussten gar nichts. Er hatte Jo gerettet, das hatte sogar der Richter zugegeben. Und dass seine Mutter sich umbringen wollte, hey, das hatte er wirklich nicht zu verantworten und ganz bestimmt nicht gewollt. Niemals!
Kein Arsch hatte das verstanden und sich dafür irgendwie interessiert und schließlich hatte er gemauert und gar nichts mehr gesagt.
Nach fünf Jahren war schließlich Frau Dr. Becker gekommen, noch so eine Psycho-Tante, aber die textete ihn nicht zu und sie stellte auch keine dämlichen Fragen und vor allem glaubte sie ihm. Alles. Sie war die Einzige, die verstanden hatte, warum er Stefanie erst hatte erlösen wollen und warum er es dann doch nicht gekonnt hatte. Sie interessierte sich wirklich für ihn, wie es ihm ging, was er dachte, was er für Wünsche hatte. Und das war neu für ihn.
Es war ein bisschen wie mit Frau Braun, aber noch netter, weil Dr. Becker jung und hübsch war. Sie erinnerte ihn trotz ihrer
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