Der sueße Kuss der Luege
die von zahllosen Krähenfüßen umgeben sind, genau erkennen kann. »Sie wird ganz sicher nicht sterben, während Sie schlafen. Ich verspreche es Ihnen.«
Natürlich kann sie so etwas gar nicht versprechen, aber sie riecht so vernünftig, so wie meine Mutter, nach altmodischer Lavendelseife und Pfefferminz und Butterbrot. Und ich möchte ihr ja auch so gerne glauben. Sie nickt mir noch einmal zu, holt ein Glas Wasser und verabreicht mir zwei kleine hellblaue Tabletten. Dann schließt sie leise die Tür und tatsächlich fallen mir schon kurze Zeit später die Augen zu.
Er am Mittwoch, dem 7. März 2012
Jan wusste es sofort. So bewegte sich nur sein Blutsbruder. Jo war jetzt sogar größer als er und sah in den mit Hawaiiblumen gemusterten Badeshorts so gut aus, dass sich alle anwesenden Damen, auch die älteren, den Hals verrenkten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Immer noch glänzte seine Haut in diesem Haselnusston, von dem Jan in der Jugendpsychiatrie anfangs viele Nächte geträumt hatte. Aber das war lange her. Jetzt machten ihm andere Dinge Freude.
Neun Jahre war das her. Neun Jahre, von denen er sieben im Kinder-KZ zugebracht hatte. Ungefähr hundert Mal hatte er angefangen, einen Brief zu schreiben, aber keinen einzigen hatte er je zu Ende gebracht und er hatte sich damit getröstet, dass es für Jo besser wäre, wenn er ihn in Ruhe ließe. Sonst war er nie so feige, nur wenn es um Jo ging.
Der jedoch hatte ihm geschrieben, zwei Jahre lang jede Woche, einhundertundvier Briefe, die zerknittert ganz unten in seinem Schrank lagen und die ihn dann endlich doch noch zum Lesen gebracht hatten.
Jo hatte nicht lockergelassen, er stellte wieder und wieder den Antrag, ihn besuchen zu dürfen, aber das wollte Jan nicht. Er wollte ihn dort nicht haben, in diesem grauen, vergitterten Besuchsraum mit einem Tisch und vier Stühlen, einem Getränkeautomaten und dem beschissenen Sonnenblumenbild an der schmierigen, schimmelpilzgrünen Wand. Der Gedanke, Jo könnte ihn bemitleiden, war so unerträglich, dass er jedes Mal, wenn der Besuch genehmigt worden war, einen Wärter brutal anfiel, nur damit die Erlaubnis zurückgenommen wurde.
Am Anfang war sein einziges Ziel gewesen, dem Kinder-KZ zu entfliehen, aber erst nachdem Schneewittchen aufgetaucht war, begann er zu kapieren, was er tun musste, um das zu schaffen. Mit ihrer Hilfe hatte es geklappt, aber als er sich bei ihr bedanken wollte, hatte sie alles versaut.
Das war jetzt zwei endlose Jahre her. Er war ausgerastet, hatte mal wieder rot gesehen, weil sie ihn gereizt hatte. Aber er hatte sie nicht ernsthaft verletzt und eine Strafe hatte sie für ihre Spielchen verdient. Trotzdem hatte er sich entschuldigen wollen und war gleich am nächsten Tag in ihre Wohnung gegangen, aber dort war sie nicht mehr gewesen. Einfach abgehauen war sie, und zwar so schlau, dass er nicht herausfinden konnte, wohin sie verschwunden war.
An jenem Tag hatte er sich geschworen, auf sie zu warten. Sie war es trotz ihrer Spielchen wert. Er wusste, sie würde wiederkommen und er musste sich einfach nur gedulden. Mit der Zeit war ihm klar geworden, dass sie ihn und die Tiefe seiner Liebe mit ihrem Verschwinden nur auf die Probe stellte.
Und nachdem er das begriffen hatte, wollte er alles für ihren gemeinsamen Neuanfang tun.
Dazu brauchte er Geld, mit seinem mickrigen Ausbildungsgehalt konnte er sie sicher nicht beeindrucken. Dabei mochte er den Job hier als Bademeister. Die blauen Fliesen erinnerten ihn nun nicht mehr an Stefanies Tod, da hatte ihn seine Zeit im Kinder-KZ abgehärtet, denn der Strafraum für die Isolationshaft war hellblau gekachelt gewesen, damit man dort alles gut abspritzen konnte. Es hatte niemanden interessiert, dass er in den ersten Nächten dort drin beinahe umgekommen wäre vor Angst. Im Nachhinein war er dankbar, denn jetzt machte ihm das alles nichts mehr aus. Seine Arbeit gefiel ihm, man sah viele junge und schöne Körper und mit den Fotos dieser Körper verdiente er ein bisschen Geld. Außerdem konnte er schwimmen, so viel er wollte, und im Sommer durfte er im dazugehörigen Freibad draußen arbeiten. Es ärgerte ihn nur, dass sein Körper einfach nicht muskulöser werden wollte, egal, wie sehr er trainierte.
Aber das Geld reichte nicht für eine Frau wie sie. Sie brauchten mehr. Nach einigen Einbrüchen in den reichen Villenvierteln zwischen Seeheim und Bensheim, bei denen es ihn deutlich mehr befriedigt hatte, das Anwesen dieser Bonzen zu verwüsten,
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