Der sueße Kuss der Luege
blonden Haare an Schneewittchen. Immer war sie blass und zart und sie roch gut, wie der Wald im Sommer, dort wo die Jagdhütte stand. Nach Himbeeren und verrottenden Blättern und frischer Rinde. Es war dieser Geruch, der ihm klarmachte, dass er frei sein und nicht sein ganzes Leben in diesem Kinder-KZ verbringen wollte. Also fing er an nachzudenken und mit der Zeit war ihm klar geworden, dass Dr. Becker mehr als nur Mitleid für ihn übrig hatte. Sie bereit war, sich für ihn einzusetzen. Aber dazu musste er etwas tun, das sie für wichtig hielt. Wie alle anderen vor ihr erwartete sie, dass er Reue zeigte, und diesmal war er bereit, dieses Spiel zu spielen. Denn Reue war ihr Kriterium für seine Freiheit.
Von da an hatte er ihr vorgemacht, dass ihn die Reue förmlich von innen auffraß, hatte von seiner Schwester nicht mehr als Zellhaufen geredet, sondern davon, dass er sie mehr hätte lieben sollen. Da hatte sie entzückt aufgestöhnt, was ihn dann viele Nächte beschäftigt hatte.
Und das Wichtigste war: Es hatte gewirkt. Schneewittchen hatte dafür gesorgt, dass er eine zweite Chance bekam. Das war vor acht Wochen gewesen, seit acht Wochen war er draußen und jetzt war es an der Zeit, diese Chance zu nutzen. Hier mit ihr! Mit ihr würde sich sein Leben verändern, ganz sicher würde es das.
Doch sie reagierte ganz anders auf seine Rosen, als er erwartet hatte. Sie schüttelte den Kopf und rührte den Strauß nicht an.
»Jan, es gefällt mir nicht, dass Sie hier sind. Ich möchte, dass Sie auf der Stelle meine Wohnung verlassen, sonst rufe ich die Polizei.«
Die Wohnung verlassen?
Er hatte jahrelang alles getan, um ihr zu gefallen. Für sie hatte er versucht, sich zu ändern.
Jetzt war sie an der Reihe. Jetzt musste sie alles tun, um ihm zu gefallen. Und das konnte ja auch nicht so schwer sein. Er wusste doch, was sie für ihn empfand, auch wenn es ihr selbst vielleicht nicht ganz klar war.
Er nickte ihr beruhigend zu und war froh, dass er die Telefonleitungen zur Sicherheit gekappt hatte. Er musste nur noch dafür sorgen, dass ihr Handy ausblieb. Sie brauchten einfach etwas Zeit allein. Im Kinder-KZ waren sie nie allein gewesen.
»Ich wollte Ihnen doch nur danken.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber jetzt gehen Sie bitte.«
Sie versuchte, ihn abzulenken, während sie mit einer Hand in ihrer Tasche nach ihrem Telefon suchte. Mit einem Sprung war er bei ihr und riss die Tasche an sich, schüttete sie auf den Tisch, fand das Handy, warf es auf den Boden, trat darauf.
Und dann machte sie etwas, was er ihr nicht verzeihen konnte.
Sie lief weg.
Sie lief vor ihm weg!
Er erwischte sie natürlich sofort, noch lange vor der Haustür. Er schleppte sie in die Küche und presste sie auf einen der unbequemen Holzstühle, die an ihrem Küchentisch standen. Sie waren hässlich und hatten ihn schon gestört, als er sich in den letzten drei Tagen mit ihrer Wohnung vertraut gemacht hatte.
Er hatte darauf gesessen, genauso wie er in ihrem Bett gelegen und unter ihrer merkwürdigen Regendusche im Bad gestanden hatte, und er hatte sich ausgemalt, wie sie zusammen neue Möbel aussuchen würden. Schönere. Bequemere.
Sobald er sie losließ, sprang sie auf. Er seufzte. Warum war sie so widerspenstig? Sie hatte ihm doch immer wieder signalisiert, dass sie ihn mochte.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn beunruhigte. Was, wenn sie mit ihm die gleiche verlogene Show abgezogen hatte wie er mit ihr? Was, wenn ihre Gefühle genauso unecht waren wie die Reue?
Eigentlich hatte er die Kabelbinder nur aus Gewohnheit mitgenommen, er hätte nicht gedacht, dass er sie wirklich brauchen würde. Aber nun sah er sich gezwungen, ihre Hände hinter der Lehne an den Gelenken zu fesseln und ihre Knöchel an die Stuhlbeine zu binden. Zuerst wehrte sie sich, doch dann, als ihr klar wurde, dass es sinnlos war, versuchte sie es auf die einzige Tour, die sie draufhatte.
»Jan, warum machen Sie das? Ich habe dafür gesorgt, dass Sie entlassen wurden!«
Er musterte ihren knabenhaften, zarten Körper und ihre blonden zusammengesteckten Haare. Die Haut ihrer nackten Arme schimmerte goldbraun, denn sie war in Urlaub gewesen, weshalb er Zeit genug gehabt hatte, sich mit ihrer Wohnung vertraut zu machen. Soweit er wusste, hatte sie keinen Freund. Irgendwas war anscheinend auch mit ihr nicht in Ordnung. Genau wie er war sie wohl irgendwie beschädigt. Er grinste wieder, auch da passten sie doch gut zusammen. Zwei einsame
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