Der sueße Kuss der Luege
kleine Jagdhütte, in der Nähe von Pfungstadt. Jan hatte mal einen Pflegevater, der Jäger war. Das hat ihn sehr fasziniert und er hat mich einmal zu der Hütte mitgenommen und sie später unter falschem Namen gepachtet. Er liebt diese Hütte und verbringt viel Zeit dort. Vielleicht hat er Ida dort versteckt.«
»Aber so eine Hütte kann verfallen, den Besitzer wechseln…«
»Das glaube ich nicht. Jan hat an der Hütte einen Narren gefressen, keine Ahnung, warum. Ich bin sicher, nur deshalb hat er seine Ausbildung zum Bademeister dann auch im Pfungstädter Wellenbad absolviert.«
Diego schaltet die Sirene wieder ein und rast weiter über die Autobahn, die zu der frühen Uhrzeit glücklicherweise wenig befahren ist. Ich habe mich nach vorne gesetzt und angeschnallt, was wegen der frischen Narbe sehr wehtut. Aber Diego fährt so schnell, dass ich ohne Gurt herumgeschleudert worden wäre. Ich packe den Griff über der Tür und kralle mich dort auch noch fest. Beinahe hätte Diego einen langsam überholenden Laster gerammt. »Das ist Wahnsinn!«, sage ich, als ich mich wieder gefasst habe. »Wir nutzen Ida nur lebend.«
»Wenn wir auf der B3 sind, schalte ich das Blaulicht ab und dann fahren wir wieder langsamer.«
Ich nicke. Etwas will mir nicht aus dem Kopf. »Warum?«, frage ich. »Was hat Jan gegen dich in der Hand gehabt, warum hast du dich auf ihn eingelassen?«
Diego schweigt. »Er hat mich nicht in der Hand gehabt«, sagt er schließlich so leise, dass es unter dem Sirenengeheul kaum zu verstehen ist. »Ich stand in seiner Schuld.«
»Weswegen?«
»Ich glaube nicht, dass du das wirklich wissen willst. Überlege es dir gut, es wird deine Sicht der Dinge für immer verändern.«
Meine Sicht der Dinge ist schon für immer verändert. Versteht er das denn nicht? »Das ist mir egal.«
Diego holt tief Luft. »Jan kam in die Pflegefamilie, die auch mich aufgenommen hatte. Es war für uns beide nicht leicht.«
Er schweigt einen Moment, als müsste er sich dazu durchringen, mit mir zu reden. Dann endlich spricht er, aber mit tonloser Stimme und die Sätze rattern aus ihm heraus wie Kugeln aus einem automatischen Schnellfeuergewehr.
»Ich habe meinen Pflegevater eines Tages überrascht, wie er heimlich Videos von meinen Pflegeschwestern gedreht hat. Ich brauchte jedoch Beweise fürs Jugendamt, und als ich die gesucht habe, hat er mich erwischt. Er hat auf mich eingeprügelt. Und er hätte mich getötet, wenn Jan nicht gekommen wäre. Jan hat meinen Pflegevater erschlagen, um mich zu retten. Dafür kam er dann in eine Art Jugendhaft.«
Ein komisches Gefühl macht sich in meinem Bauch breit. Diego hat mich gewarnt, aber das, was ich eben gehört habe, ist schlimmer als alles, was ich mir hätte vorstellen können. Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Prinzessin auf der Erbse, weil ich so etwas nur aus der Zeitung kenne: Pflegesohn erschlägt Vater nach Familiendrama.
Wie kann Diego mit diesem Wissen leben? Ist man dankbar, weil man noch lebt, oder wünscht man seinen Retter zur Hölle? Ich versuche, mir vorzustellen, wie Sebastian jemanden tötet, um mich zu retten, schaffe es aber nicht mal ansatzweise, mir das auszumalen. Ich würde allerdings Idas Entführer töten, um sie zu retten, da bin ich nach allem, was passiert ist, ganz sicher.
»Glaubst du, Ida lebt noch?«
Diego schaut mich nicht an und schaltet einen Gang herunter, um mit aufheulendem Motor einen weiteren Lastwagen zu überholen. »Ja. Jan war kein schlechter Mensch. Er konnte jähzornig werden und explodieren, wenn jemand seine Autorität in Frage stellte, dabei…« Er zögert und verstummt dann.
»Dabei was?«
Diego zögert. »Ich versuche, es dir zu erklären, wenn das hier vorbei ist, okay?«, sagt er und biegt von der B3 ab auf einen unbefestigten holprigen Waldweg zwischen Eberstadt und Pfungstadt. »Jetzt müssen wir uns auf Ida konzentrieren.«
Ich nicke. Er hat recht. Jan ist nur wichtig, weil wir herausfinden müssen, wo er Ida versteckt hält.
Ich lasse mir noch einmal durch den Kopf gehen, was Diego gesagt hat. Jan war ein Einzeltäter, hat er behauptet. Das heißt, Ida sitzt irgendwo allein in einem Versteck. Ohne Wasser, ohne Essen. Sie wird fürchterliche Angst haben.
Kann man vor Angst sterben, frage ich mich plötzlich.
»Schneller«, sage ich angespannt und Diego gibt sich redlich Mühe, aber der Weg, auf dem wir jetzt fahren, ist schmal, Äste streifen die Autotüren und bald können wir nur noch Schritttempo
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