Der sueße Kuss der Luege
»Egal, gibt es noch einen Ort, wo Jan Ida hätte verstecken können?«
Diego schüttelt den Kopf. »Ich hab keine Ahnung. Ich erinnere mich nur an eine alte Frau, die Jan mochte, aber ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, und schon gar nicht, wo sie wohnt. Vielleicht hat Jan deine Nichte bei ihr versteckt.«
Ein Wimmern dringt an meine Ohren. »Still, hast du das auch gehört?«
Er schüttelt den Kopf.
»Doch, da war es wieder.« Diego und ich lauschen gemeinsam, aber nichts ist zu hören.
»Da war etwas, ich bin ganz sicher. Und es kam nicht von draußen.« Ich springe auf und klopfe die Wände ab, was zu nichts führt.
»Warte.« Diego unterbricht mich. »Jetzt habe ich es auch gehört. Es klingt irgendwie dumpf.«
Ich starre auf die wenigen Gegenstände in der Hütte, dann beginne ich hektisch, das Bett zur Seite zu schieben. Diego versteht, was ich vorhabe, und hebt den fahlen Teppich, der darunterliegt, hoch. Und dann entdecken wir die Falltür.
Diego wird bleich. »Die gab es noch nicht, als wir damals hier waren. Lass mich vor.« Er hebt die Klappe an, Geruch nach feuchter Erde und verwesenden Blättern und nach noch etwas anderem steigt empor. Und jetzt hören wir es deutlicher. Jemand wimmert da unten. Ein Mensch!
Ich schubse Diego aus dem Weg. Ida, Ida, wir haben endlich Ida gefunden. Und sie lebt! Ich steige, nein, ich rase die steile, roh gezimmerte Treppe nach unten, es ist mir egal, ob ich falle. Dort unten ist es stockfinster und ich taste mich an der Wand entlang. Es fühlt sich an, als ob die Wände aus Erde und Wurzeln bestünden, ab und zu ertaste ich einen behauenen Baumstamm. »Ida?«, flüstere ich in die Dunkelheit. »Ida, mein Schatz, ich bin es, Tante Lu, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Alles ist gut, alles, alles wird gut.« Ich wundere mich, wo Diego bleibt, und für einen Moment lähmt mich die Angst, dass jemand die Falltür schließt und ich auch hier drin gefangen bleibe.
Das Wimmern hat aufgehört. »Ida, Ida, sag doch was, dann kann ich dich leichter finden. Das Versteckspielen ist zu Ende.«
»Wer sind Sie?« Eine raue, kaum hörbare Frauenstimme lässt mich zusammenzucken. Im gleichen Augenblick wandert ein Lichtkegel die Treppe herunter. Diego kommt angerannt, völlig außer Atem. »Ich wusste, im Auto ist eine Taschenlampe.«
Sein Lichtstrahl zeigt eine zarte blonde Frau, deren Kleider voller Erde sind, als ob sie schon seit Wochen hier drin eingesperrt wäre. Sie kauert völlig verängstigt in der Ecke, ihre Beine sind aneinandergefesselt und sie versucht, uns anzuschauen, aber ihre Augen sind das Licht nicht gewöhnt und sie verdeckt sie mit ihren Händen.
»Ich heiße nicht Ida, aber bitte bringen Sie mich hier raus, schnell! Bevor er zurückkommt.«
Diego gibt mir die Lampe, geht zu ihr und nimmt sie auf seine Arme, was die Frau zuerst abwehren will, aber dann gelingt es ihr, die Augen zu öffnen, sie erkennt die Uniform, die Diego trägt, und sie lässt sich von ihm die Treppe hochtragen.
Ich verstehe gar nichts mehr. Wer ist diese Frau? Warum ist sie hier eingesperrt? Und wo ist Ida?
Diego will die Frau oben auf der Pritsche absetzen, aber das erfüllt sie mit Entsetzen, sie keucht und will nach draußen gebracht werden.
Wir gehen mit ihr raus, suchen eine Stelle, die nicht mit Ästen übersät ist, und finden einen kleinen Teppich aus Moos. Diego bückt sich und setzt sie behutsam dort ab. Die Frau legt ihre Arme um den Oberkörper und blickt sich verängstigt um.
»Wasser!«, sagt sie tonlos.
Aber wir haben keines dabei. Ida, denke ich. Hat Ida genug Wasser? Kleine Kinder trocknen schnell aus.
»Bitte«, wimmert sie, »ich brauche Wasser. Ich muss mich waschen.« Ihre blonden Haare wirken wie meliert von der schwarzen Erde, die sich überall auf ihrem Körper breitgemacht hat. Von ihrer Nase verläuft eine tiefe Falte zum Mund, dessen Lippen tiefe, blutig verkrustete Risse aufweisen. Ihre weiße Schluppenbluse ist grau von Erde und ihr schwarzer knielanger Rock zerrissen. Ihre Füße sind nackt und dort, wo ihre schlanken Beine aneinandergefesselt sind, hat sie tiefe Wunden und blaue Flecken. Langsam dämmert mir, wer die Frau sein könnte.
»Sie sind Frau Dr. Becker«, sagt Diego. »Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen. Sie haben dafür gesorgt, dass Jan Gohlis freigekommen ist.«
Ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse aus Schmerz. Tränen laufen über ihre Wange und hinterlassen eine saubere Rinne in dem schmutzigen Gesicht. Sie
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