Der sueße Kuss der Luege
fahren.
Das gestrige Gewitter hat hier offensichtlich stärker gewütet als in Frankfurt. Überall liegen frisch abgebrochene Äste von Kiefern herum und jedes Loch in der Erde ist mit Wasser gefüllt, was sehr ungewöhnlich ist. Aus unzähligen Schulaufsätzen weiß ich, dass die Kiefernwälder hier auf trockenem Sandboden wachsen, in dem alles sofort versickert.
Schließlich kann Diego nicht mehr weiterfahren. Er hält an.
Weit und breit keine Hütte in Sicht.
Diego reißt die Tür auf, läuft zum Kofferraum und öffnet ihn. Gleich darauf kommt er wieder zu mir und hält ein beigefarbenes Polizeihemd und eine Hose in der Hand, die er mir hinwirft. »Beeil dich«, sagt er. »Von hier aus sind es nur noch fünf Minuten zu Fuß.«
Ich denke an Ida und habe mich noch nie im Leben so schnell angezogen. Dazu bringt Diego mir noch Gummistiefel, sie sind zu groß, aber egal, ich würde auch barfuß gehen.
Diego rennt vor mir her durch den lichten Wald, der von lautem Gezwitscher erfüllt ist, Spechte hämmern und klopfen hektisch an die Kiefernstämme, überall im Unterholz raschelt und knackst es, der ganze Wald atmet Leben, duftet nach frisch geschlagenem Holz und nach Maiglöckchen. Und ich bin hin- und hergerissen, ob mich das nun mit Hoffnung für Ida erfüllen sollte oder nicht. Das Schmerzmittel scheint nachgelassen zu haben, in meiner Brust pocht es wieder und meine Füße schubbern und quatschen bei jedem Schritt in den Gummistiefeln hin und her, aber ich spüre das alles nur am Rand, denn jetzt gilt es, Ida zu finden.
»Wie lange noch?«
»Dort drüben ist es schon.« Diego zeigt auf eine Hütte, die so geschickt ins Unterholz neben einen Hochstand gebaut ist, dass ich sie allein nie gefunden hätte. »Sie sieht anders aus, als ich sie in Erinnerung habe. Größer.«
Er ist als Erster da. Als ich außer Atem an der Hütte angekommen bin, hämmert er schon gegen die Holzwände und brüllt: »Ida, Ida, bist du da drin?«
Er am Donnerstag, dem 10. Mai 2012
Jan rammte den letzten Balken in den kleinen Bunker, den er unter der Jagdhütte angelegt hatte, und betrachtete befriedigt den kleinen Raum, der trotz der Baulampe seltsam dämmrig blieb. Ein guter Platz zum Nachdenken, auch wenn er ihr einen Platz am Wasser gegönnt hätte. Er lächelte und klopfte seine erdigen Hände an dem Blaumann ab, den er hier unten immer trug.
In letzter Zeit lief alles wie am Schnürchen. Sein Leben schien sich endlich zum Guten zu wenden. Gott hatte zwar nicht direkt ein Wunder vollbracht, aber es war nahe dran. Erstens war Dr. Becker zurückgekommen und alles war für sie bereit.
Er stieg die steile Treppe nach oben, angelte nach der Baulampe und schloss die Falltür.
Zweitens hatte er jetzt schon einen Plan B, der ihm aus der Scheiße helfen würde, falls Jo schwach werden würde, wonach es im Moment ganz aussah. Und das Beste an dem Plan B war, dass er sich dabei selbst ein bisschen wie Gott vorkam, der ein Wunder bewirkt. Er würde einem Menschen damit ein neues Leben verschaffen, dann wäre er quitt wegen Stefanies Unfall und seinem Neuanfang mit Dr. Becker stünde nichts mehr im Wege. Ja, Dr. Becker wäre sogar stolz auf ihn. Der Gedanke brachte ein Leuchten auf sein Gesicht.
Und all das wiederum war nur passiert, weil er die alte Frau Braun besucht hatte. Er dachte daran, wie er sie gefunden hatte, gleich nachdem er aus dem Kinder-KZ draußen war. Mit Blumen, ganz so wie es sich gehört, hatte sie besuchen wollen, aber als er vor ihrer Haustür stand, hatte niemand aufgemacht. Eine Nachbarin, die in dem Haus seiner Eltern wohnte, hatte ihm nur allzu gern verraten, dass die Kinder von Frau Braun ihre Mutter ganz in der Nähe in einer Seniorenresidenz untergebracht hatten, angeblich weil sie es alleine nicht mehr schaffte. Das Haus stand leer, weil die Kinder es verkaufen wollten, sich aber nicht einigen konnten.
Damals hatte Jan der Teufel geritten und er war einen Schritt zu weit gegangen, als er die Nachbarin gefragt hatte, ob es denn den Pool noch gäbe. Da erst sah sie ihn genauer an und meinte nur spitz, sie wüsste nichts von einem Pool. Das hier sei keine Gegend für Pools.
Daraufhin hatte er sich beeilt wegzukommen und war die paar Meter zu der Residenz gelaufen. Er hatte keine Ahnung, was sie schaffte es alleine nicht mehr bedeuten sollte, und der Gedanke, dass auch Frau Braun zu einer Ansammlung schwachsinniger Zellhaufen geworden sein könnte, ließ ihn schaudern. Trotzdem wollte er sie sehen.
Elsa
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