Der sueße Kuss der Luege
Braun war körperlich in bester Verfassung gewesen und freute sich über seinen Besuch, auch wenn sie ihn nicht erkannte. Doch das störte ihn nicht, im Gegenteil.
Er hatte sich als Enkel ausgegeben und die alte Frau von nun an regelmäßig besucht. Die hübschen Pflegerinnen in der Residenz bewunderten ihn dafür, weil er sich so liebevoll um seine Großmutter kümmerte und ihr Geschenke mitbrachte. Auch die anderen Alten liebten ihn.
Niemand wusste, wer er wirklich war. Frau Braun und er betrachteten zusammen alte Fotos aus ihren Alben und Jan war überrascht, wie gesund und klar seine Schwester darauf aussah und wie klein er damals noch gewesen war.
Es tat ihm nur leid, dass er sich in Kürze für immer von Elsa Braun verabschieden musste, und wenn er daran dachte, dann stiegen ihm doch tatsächlich Tränen in die Augen. Er hatte ihr so viel zu verdanken, denn ohne sie hätte er niemals Plan B entwickeln können, da hätte er ganz auf Jo vertraut, dabei war der so vernarrt in diese pummelige Kleine, dass er plötzlich aussteigen wollte, ja sogar fand, er wäre ihm, seinem Blutsbruder, nichts mehr schuldig.
Jan unterdrückte seinen Zorn und dachte daran, wie dumm Jo aus der Wäsche schauen würde, wenn ihm klar würde, dass er reingelegt worden war. Von wegen die Bonzenwohnung ausrauben… Er seufzte. Ja, sein Blutsbruder hatte eine kleine Lektion verdient.
Er versperrte die Hütte und spazierte durch den nach Frühling duftenden Kiefernwald zu seinem Auto. Um das kleine Mädchen machte er sich keine Sorgen. Kinder waren zäh, das wusste er von sich selbst.
Lu am Freitag, dem 8. Juni, 8:05 Uhr
Wir laufen um die Hütte herum und entdecken, dass sie mit einem schweren Kettenschloss gesichert ist. Wir bräuchten einen Bolzenschneider, um das aufzukriegen.
»Verdammt.« Diego sieht sich suchend um und dann entdeckt er etwas. Unter dem Hochstand befindet sich ein Stapel Holz und darauf liegt ein verrostetes Beil.
»Damit schlagen wir ein Loch in die Tür.«
Ich stelle mir vor, wie sich Ida dahinter zu Tode erschrecken wird, aber dann denke ich daran, dass ich sie ja sofort in meine Arme schließen und trösten kann, und deshalb feuere ich Diego an, sich zu beeilen.
Nach etlichen heftigen Hieben ist die Tür offen.
Ich stürme an ihm vorbei hinein. »Ida, Ida!«, rufe ich.
Aber der Raum ist leer. Ich sehe eine kleine eiserne Pritsche mit einer schmuddeligen Wolldecke drauf, daneben eine wacklige Kommode in einem schmutzigen Lachsrosa.
Ich schaue unter die Pritsche, ich reiße die Türen der Kommode auf und mir fallen kleine Pappkartons entgegen. Obwohl klar ist, dass das Ida nicht weiterhilft, öffne ich die Kartons und starre hinein. Es sind Fotos. Jede Menge Fotos, von Jungs im Schwimmbad, von Mädchen in der Umkleidekabine, von Kindern unter der Dusche. Als Diego das sieht, verzieht er voller Abscheu sein Gesicht. »Ich wusste nicht, dass Jan schon so tief gesunken ist.« Er wendet sich ab und geht nach draußen, als bräuchte er frische Luft. Ich setze mich auf das Bett, um weiterzusuchen. Alles besser, als der Tatsache ins Auge zu sehen, dass Ida nicht hier ist. In der anderen Kiste finde ich Fotos von Diego. Er sah schon als Zwölfjähriger fast so gut aus wie heute, aber sein Lächeln war anders damals. In der gleichen Kiste entdecke ich Bilder von einem jungen, gut aussehenden Mann in Uniform und dann Bilder von Ida. Ida und ich auf dem Spielplatz, Ida und ich auf dem Flohmarkt, Ida und Yukiko beim Einkaufen, Ida und Christian beim Radfahren. Meine Knie fangen wieder an zu zittern. Ein riesenhafter Klotz aus Schuld legt sich auf meine Brust, verwandelt das Atmen in Schwerstarbeit und erinnert mich daran, wie Ida unter der grünen Decke geschnauft hat.
Idas Eltern, mein Bruder und Yukiko, oh Gott, an die habe ich seit gestern nicht mehr gedacht. Die Armen landen in wenigen Stunden in Frankfurt und Ida ist immer noch verschwunden.
»Ich war so sicher, dass Ida hier ist.« Diego ist wieder reingekommen und setzt sich neben mich auf das alte Bett. Er sieht völlig verzweifelt aus. »Draußen auch keine Spur von Ida. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich kann mir das nicht erklären. Ich dachte, ich kenne Jan.«
»Und wenn er doch einen Komplizen hatte? Schließlich gibt es eine neue Lösegeldforderung. Und dann ist da noch die Sache mit der japanischen Mafia.«
Diego sieht mich an, als wäre ich geistesgestört, und genauso komme ich mir auch vor.
»Das erklär ich dir später«, füge ich hastig hinzu.
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