Der sueße Kuss der Luege
das ist«, schreie ich. »Hinze hat davon gesprochen, ich hab es nur vergessen. Die Familie wohnte damals in der Parkstraße im Blumenviertel am Stadtrand von Frankfurt. Da finden wir bestimmt auch Elsa Braun.«
»Tun Sie nicht.« Die Stimme auf dem Rücksitz klingt unendlich müde. Als ob Frau Dr. Becker weit entfernt ist. Aber sie scheint sich noch einmal zusammenzureißen. »Er hat von ihr gesprochen… von der alten Frau… als ich schon da unten… als er mich schon in seiner Gewalt hatte. Er wollte sie gern zu unserer Hochzeit einladen.« Sie lacht angewidert. »Hochzeit!« Dann klingt sie wieder ganz klar und sachlich und ich kann sie mir auf einmal gut als Therapeutin vorstellen. »Elsa Braun lebt in einem Altersheim.«
Ich starre Diego an. »Dann bleibt uns nur noch die Polizei.«
Mir ist egal, dass ich damit Frau Becker verrate, wer wir wirklich sind, jetzt spielt das alles keine Rolle mehr.
Sie wirkt nicht mal überrascht.
»Sind Sie nicht die Polizei?«, fragt sie ganz gelassen. Als ob ihr nichts mehr auf der Welt etwas ausmachen könnte.
Ich drehe mich wieder zu ihr um. »Ich bin Idas Tante und das hier ist… mein Freund. Er ist… er kennt Jan Gohlis von früher und wir handeln auf eigene Faust.« Frau Dr. Becker nickt nur. Auch das scheint sie nicht zu interessieren.
»Bitte, wir müssen meine Nichte finden. Ich bin schuld, dass sie entführt wurde.«
»Das ist schlimm, oder?«, sagt sie mit so überraschend sanfter Stimme, dass mir die Tränen kommen.
»Ja, das ist es«, bringe ich gerade noch hervor, dann fange ich an zu weinen. Diego legt mir die Hand auf mein Bein, aber das hilft nicht. Ich werde von Schluchzern geschüttelt.
Und so merke ich kaum, wie Diego von der Autobahn abfährt, nach Darmstadt hinein, dort ein paar Mal abbiegt und dann vor einem hässlichen Hochhaus mit einem merkwürdigen Glaskasten nebendran anhält. Klinikum Darmstadt, lese ich.
Frau Dr. Becker ist ganz still geworden, sie sagt kein Wort und wehrt sich auch nicht, als Diego aussteigt, die Tür öffnet und ihr behutsam aus dem Wagen hilft, um sie zur Notaufnahme zu tragen.
Als sie schon ein gutes Stück weg sind, kommt Diego mit ihr auf dem Arm wieder zu mir zurück und sie sucht noch einmal meinen Blick. Ich springe aus dem Auto. »Ja?«, frage ich hoffnungsvoll. »Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
»Finden Sie die Kleine«, flüstert sie beschwörend. »Und wenn Sie sie gefunden haben, sehen Sie zu, dass ihre Seele keinen Schaden nimmt.«
Die Bambusprinzessin fährt über den Jordan
Ida kam wieder zu sich, sah sich ratlos in der Dunkelheit um und hatte keine Ahnung, wo sie war. Ihr war kalt und sie zitterte am ganzen Körper. Hinter ihr saß Emil und um sie herum lagen Holzsplitter. Sie war allein und ihre Fesseln waren nicht mehr da.
Vorsichtig bewegte sie ihre Arme zur Seite, als ob sie fliegen wollte, dann versuchte sie, ihre Beine zu bewegen, auch das war möglich. Sie ging auf die Knie und stellt einen Fuß auf, um dann aufzustehen, doch dabei drehte sich alles in ihrem Kopf, als ob sie mit Papa heimlich Kettenkarussell gefahren wäre. Deshalb setzte sie sich wieder auf ihre Knie und wartete, dass ihr Kopf sich beruhigen würde, und weil das so lange dauerte, legte sie ihre Händchen rechts und links auf ihre Ohren, um ihren Kopf zu trösten. Sie spürte links ihren seidigen Zopf, doch rechts war nur noch der borstige Haarstumpf und da fiel ihr alles wieder ein. Wie der Oni sie entführt hatte, weil sie Verstecken gespielt hatte, ohne Lu Bescheid zu sagen, und wie sie sich dann in eine Tochter des Mondes verwandelt hatte. Und dann war die Yamauba gekommen, die sie aus dem Schrank geholt und ihre Fesseln gelöst hatte und nach draußen geschleppt hatte und dann wieder nach drinnen. Doch jetzt war niemand hier, der sie bedrohte. Sie war mit Emil allein und sie wollte zurück nach Hause.
Sie versuchte wieder aufzustehen, aber es gelang ihr nicht, ihr ganzer Körper fühlte sich merkwürdig schwer an, als wäre sie ein Känguru mit einem Baby, dachte Ida, und die können damit sogar große Sprünge machen, aber das würde ja eine Bambusprinzessin auch nicht tun, Sprünge machen. Sie begann, auf allen vieren vorwärtszukriechen. Ganz langsam bewegte sie ihre Knie und ihre Händchen über die blutigen Holzsplitter, dorthin, wo sie einen Lichtschimmer aufblitzen sah. Das ist mein Zuhause, dort, wo das Mondlicht ist, überlegte sie, da muss ich hin, Emil hole ich später. Immer wieder zwang ihre
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