Der sueße Kuss der Luege
hat mich Andrea doch nicht belogen und ihr Handy wurde nicht abgehört.
»Was machen wir jetzt?«
»Das Schnellste wäre ein Taxi zum Altersheim. Oder hat dein Telefonat irgendetwas Neues ergeben?«
Ich schüttele den Kopf, denn nichts, was Andrea gesagt hat, hilft bei der Suche nach Ida.
Wir verlassen die kleine Bahnstation und hoffen auf ein Taxi.
Aber hier kommt nur alle Jubeljahre eins vorbei und wir müssen ein gutes Stück gehen, bevor ein freies anhält. Es ist ein klappriger Wagen mit einem jungen Vietnamesen am Steuer. Er nimmt kaum Notiz von uns und hört Hessen-Drei-Radio auf voller Lautstärke, was uns sehr recht ist.
Wir steigen beide nach hinten und sinken tief ein in der durchgesessenen Rückbank. Diego legt zaghaft seinen Arm um mich, und als ich mich an ihn lehne, umfasst er mich fester. Was keine gute Idee ist, denn so weicht jede Energie aus mir und macht absoluter Erschöpfung Platz, die sich dann mit jedem Meter, den wir fahren, in immer größere Mutlosigkeit verwandelt.
»Glaubst du, dass wir Ida noch rechtzeitig finden werden?«
»Ich weiß es nicht.« Er nimmt meine Hand und drückt sie fest. »Aber wir dürfen nicht aufgeben.« Er schluckt hörbar. »Lu, ich kann jetzt nicht aufgeben. Ich muss sie finden, weißt du, denn sonst…«, er bricht ab, räuspert sich, »sonst kann ich nicht mehr weiterleben.«
Und da plötzlich wird mir klar, warum er nicht zur Polizei gegangen ist, nicht hingehen konnte. Er fühlt sich grauenhaft schuldig an allem, was passiert ist, und er muss seine Schuld wiedergutmachen, aber das kann er nur selbst tun und damit haben wir etwas gemeinsam. Denn nur wenn wir Ida retten, können wir uns irgendwann selbst verzeihen. Deswegen sind wir hier unterwegs auf dieser verzweifelten wilden Jagd quer durch das Rhein-Main-Gebiet.
Die Musik endet abrupt. »Wir unterbrechen unsere Sendung für eine dringende Suchmeldung der Polizei…«, sagt die Moderatorin und es klingt so munter und lustig, als würde sie gleich vierundzwanzig Grad und Sonnenschein für den morgigen Tag ankündigen.
»Könnten Sie die Musik ausmachen? Meine Frau hat Kopfschmerzen!«, sagt Diego, der viel schneller geschaltet hat als ich. Der junge Fahrer dreht sich um, schaut mich an, verzieht sein Gesicht. »Kopfschmerzen, ja? Fühlen uns nicht wohl, heute?«
Kopfschüttelnd schaltet er das Radio aus, bevor unsere Beschreibung in allen Details ertönt.
Es dauert nicht lange, bis der Fahrer von der Autobahn runterfährt. Wir passieren ein paar Reihenhaussiedlungen und biegen dann an einer Hauptstraße Richtung Blumenviertel ab. Ein paar Minuten später sind wir an der Efeumühle angekommen, ein überraschend schönes altes Gebäude, über und über mit Efeu bewachsen, das sich inmitten eines großen Parks befindet.
»Warten Sie hier einen Moment auf uns?«, bittet
Diego den Fahrer und flüstert mir dann zu: »Nur für den Fall, dass sie nicht hier wohnt.«
Der Vietnamese will dafür zehn Euro Anzahlung und dreht, kaum dass wir ausgestiegen sind, das Radio wieder auf.
Der Gedanke, dass wir hier wieder nicht weiterkommen könnten, treibt mir die Tränen in die Augen und schnürt mir die Kehle zu. Bitte, denke ich, Götter, Geistwesen, Seelenreisende, Glückswolken, wer auch immer, bitte, lasst unsere Suche hier zu Ende gehen.
Wir laufen die Stufen neben der eisernen Rampe hoch zum Eingang, wo ein kleiner Rollstuhl- und Rollatorpark deutlich verrät, wo wir uns hier befinden, folgen dann der riesigen Beschilderung durch die mit gelbem Linoleum belegten Flure zum Empfang. Diego, der seriöser aussieht als ich, tritt vor und fragt nach Elsa Braun.
Die grauhaarige Rezeptionistin im weißen Kittel schaut auf und betrachtet ihn überrascht durch ihre dicke lila geränderte Brille, nimmt sie dann ab und nickt wohlwollend. »Also, das ging ja schnell.«
»Entschuldigung?« Diego versucht sein strahlendes Lächeln, das ihm in der Anstrengung allerdings etwas schief gerät, und schaut auf ihr Namensschild. »Frau Schneider, wir sind immer von der schnellen Truppe, Sie wissen schon, die Polizei dein Freund und Helfer. Ich bin jedenfalls wegen Frau Braun hier.«
»Natürlich, deswegen haben wir Sie ja angerufen. Aber das ist bei ihr wirklich noch nie vorgekommen, noch nie.«
Sie klingt empört, so als hätte Frau Braun etwas Unanständiges getan.
»Wirklich noch nie, das versichere ich Ihnen.«
»Wir wissen, dass Frankfurts Senioren bei Ihnen bestens aufgehoben sind. Was ist denn nun genau
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