Der sueße Kuss der Luege
erhört. Oh ja, unsere Suche endet hier. Alles endet hier.
Ich starre auf den schlammig olivbraunen See, versuche, seine Oberfläche zu durchdringen, und sehe nichts als Idas große minzgrüne Augen vor mir, höre ihr prustendes Bauchglucksen, wenn sie gedacht hat, sie hätte mich ausgetrickst. Sehe, wie sie in ihrem Schlafkimono empört ihre speckigen Ärmchen verschränkt und mich streng zur Rede stellt, weil ich eine winzige Stelle in dem Märchen Die Bambusprinzessin ausgelassen habe. Und dann sehe ich, wie sie mir von Weitem so schnell entgegenrennt, dass ihre schwarzen Haare hinter ihr herflattern wie ein Segel. Sie rennt, weil sie sich freut, mich zu sehen, sie rennt, weil sie mich liebt, weil sie mir vertraut. Sie rennt in meine Arme, denn sie weiß, dass ich sie immer auffangen, umarmen und herumschwingen und niemals fallen lassen werde, sie rennt zu mir, weil sie weiß, wie sehr ich sie liebe.
Und jetzt sie tot.
Ich sacke zusammen und es würgt mich in meinem Hals, mir wird schlecht. Die Karateregel Nummer sieben. Unglück geschieht immer durch Unachtsamkeit. Und der Preis, den ich für meine schreckliche Unachtsamkeit bezahlen muss, ist das Leben von Ida.
Lu am Freitag, dem 8. Juni 2012, 11:00 Uhr
»Wir müssen hier weg!« Diego hat sich hinter mir auf den Steg gehockt und legt seine Hand tröstend auf meine Schultern. Ich entziehe sie ihm. Hat meine Unachtsamkeit schon damit angefangen, dass ich ihm vertraut habe? Ja. Natürlich. Wenn ich ihn nie getroffen hätte, wäre das alles nicht passiert. Keine Liebe der Welt rechtfertigt ein totes Kind.
»Wir müssen hier weg«, flüstert er mir ins Ohr, damit Frau Schneider uns nicht hören kann.
Es gibt kein wir mehr, denke ich. Das kann es angesichts von Idas Tod nicht geben.
»Die Polizei.« Was für eine kindische Idee, Ida ohne die Polizei finden zu wollen. Wie vermessen. »Ich rufe Kriminaldirektorin Rolfs an.«
»Ja. Aber dadurch werden wir Ida auch nicht finden.«
Ich will es ihm an den Kopf schleudern, laut schreien: Ida ist tot, aber ich kann es nicht, denn wenn ich das tue, ist es wirklich passiert. Dann ist es wahr. Unwiderruflich.
»Wir sollten alles versuchen.« Diego versucht, mir in die Augen zu schauen, aber ich kann seinen Blick nicht erwidern. Was denn noch versuchen? Der Schmerz in meiner Brust und all das Blut hier sprechen doch eine deutliche Sprache.
»Hier ist etwas Fürchterliches passiert, Lu. Aber noch kennen wir nicht die genauen Hintergründe. Hast du die anderen Spuren am Steg gesehen?« Er beugt sich zu mir hinunter. »Pass auf, ja, wir rufen die Polizei. Die können herausfinden, welches Blut hier vergossen wurde und was welche Spuren zu bedeuten haben. Lu, hörst du mich?«
Diego schüttelt mich, aber nur ein bisschen, weil Frau Schneider schon auf dem Weg zu uns ist und sich wahrscheinlich fragt, warum die komische Jungpolizistin auf dem Steg zusammengebrochen ist und der andere sie an der Schulter rüttelt.
»Und was machen wir jetzt? Das sieht ja nicht gut aus für Frau Braun. Aber ich verstehe das alles nicht. Wieso hackt sie diesen Schrank kaputt? Da stimmt doch etwas nicht. Die Frau war noch nie in ihrem Leben aggressiv.«
Diego erhebt sich und geht auf sie zu, während ich zusammengekrümmt auf den See starre. Ist mir doch alles egal und diese Frau Braun ist mir erst recht egal.
Ich will nur, dass Ida wieder da ist.
Yukiko fällt mir ein und vergrößert dieses schwarze Loch in meinem Bauch, das alles verschlingt, was schön war. Yukikos Gesicht kurz nach Idas Geburt, wie ein Sonnenglückskeks, so strahlend und entspannt habe ich sie noch nie erlebt. »Das hier, dieser Zwerg ist das Beste, was ich je in meinem Leben zustande gebracht habe. Schau dir die Form von Ida-Kims Augen an, der Schwung dieser Lippen. Und ihre Haut schimmert schöner als Perlmutt. Ist sie nicht einfach perfekt?« Und das war sie.
Diego wendet sich an Frau Schneider und stimmt ihr zu, dass hier etwas passiert ist, das die Anwesenheit der Kollegen dringend erforderlich macht. Er sagt ihr, sie soll ins Haus gehen, den Notruf wählen und nach der Kriminaldirektorin Rolfs fragen und ihr sagen, dass hier eine Spur zum Fall Ida Schrader vorliegt.
Frau Schneider kneift ungläubig die Augen zusammen, protestiert, weil das dem Chef nicht schmecken wird und es doch nur um die Frau Braun geht und was die Presse da wieder draus machen wird und wieso er denn nicht selbst die Kollegen anruft, aber Diego schaut sie nur streng an und erinnert sie an
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